Phantomatik - Eine Zukunftsvison der virtuellen Realität nach Stanislaw Lem

von Thomas Krammer

Letzte Änderung: 13.02.1996


Inhalt

  1. Über diesen Text
  2. Was ist Phantomatik?
  3. Was kann ein Phantomat
  4. Wie können Realität und phantomatische Illusion unterschieden werden?
  5. Vom Nutzen der Erkenntnis und der Maschine
  6. Wann ist diese Technologie verfügbar, und ist sie überhaupt verwirklichbar?
  7. Biblographie
  8. Weiter Informationen zum Thema virtuelle Realität

Über diesen Text

Dieser Text basiert auf den Überlegungen, die Stanislaw Lem 1976 in seinem Buch Summa Technologiae angestellt hat. Stanislaw Lem wurde 12.9.1921 in Lwow geboren, lebt heute allerdings in Krakow. Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs arbeitete er als Autoschlosser und war Mitglied der Widerstandsbewegung. Nach dem Krieg studierte er Medizin und war nach seinem Abschluß als Assistent für Probleme der angewandten Psychologie tätig. Privat beschäftigte er sich mit Problemen der Kybernetik, der Mathematik und übersetzte wissenschaftliche Publikationen. Seit 1973 liest Lem als Dozent am Lehrstuhl für polnische Literatur an der Universität Krakow. Bekannt wurde er vor allem durch seine Science Fiction-Romane, wie z.B. Robotermärchen, die Sterntagebücher und der futurologische Kongreß. Er hat allerdings auch populärwissenschaftliche Bücher veröffentlicht, wie Summa Technologiae. In diesem Werk beschäftigt er sich zum einen mit Problemen der Kosmologie und der Evolution, vor allem aber mit einer Vision der menschlichen Gesellschaft der Zukunft. Jedoch ist auch Lem klar, das solche futurologische Ausblicke nur sehr schwer bis unmöglich sind, wenn man die aktuellen Veränderungen in die Zukunft fortschreibt. Deshalb versucht er eine Grenze zwischen möglichen und unmöglichen abzustecken, basierend auf den Naturgesetzen und generelle Tendenzen der menschlichen Entwicklung zu finden und diese in die Zukunft zu projizieren. Dennoch sagt Lem: in der Futurologie wird Wissen vorgetäuscht, wo früher über die pure Unwissenheit kein Zweifel bestand.


Was ist Phantomatik?

Phantomatik ist ein Begriff der 1976 von Stanislaw Lem in seinem Buch Summa Technologiae geprägt wurde. Kurz gesagt handelt es sich dabei um eine sehr weit fortgeschrittene Version unserer heutigen virtuellen Realität, wobei sich unsere heutigen Möglichkeiten ausnehmen, wie die einer Laterna Magica im Vergleich zu einem I-Max Kino. Ich habe diesen relativ alten Text den aktuellen vorgezogen, da die heutigen Autoren viel zu stark von den jetzigen technischen Möglichkeiten geprägt sind, um einen Ausblick in eine weit entfernte Zukunft zu wagen.
Um die Möglichkeiten und die technische Realisierbarkeit der Phantomatik zu beleuchten, beginnen wir mit einem Gedankenexperiment. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Mensch sitzt auf der Veranda seines Hauses, blickt hinaus in den Garten, hört die Vögel zwitschern und von irgendwo her Kindergeschrei. Ein leichter Rosenduft wird von der warmen Brise herangeweht. All diese Informationen werden von den Sinnesorganen aufgenommen und gelangen über die afferten oder sensorische Nervenbahnen zum Gehirn. Da Nervenimpulse grundsätzlich nichts anderes sind als schwache elektrische Ströme, kann man sie messen und aufzeichnen. Dies wird schon heute zum Beispiel bei Gehirnstrommessungen schon gemacht. Wir verwenden nun ein ähnliches Verfahren, um die Ströme in den einzelnen Nervenbahnen zu messen. Dazu ist natürlich eine wesentlich höhere Trennschärfe als bei heutigen Verfahren notwendig, da diese nur die Ströme in ganzen Gehirnbereichen messen können. Auch muß unser Verfahren in der Lage sein, auch Ströme in wesentlich tieferen Regionen des Körpers zu messen, als dies heute möglich ist, denn wir wollen schließlich auch Daten vom Sehnerv erhalten, der von dicken Knochen- und Gewebsschichten umgeben ist. Wie diese Technologie auch immer aussieht, die gewonnenen Daten werden verstärkt und dann gespeichert. Jetzt können wird endlich zum zweitem, interessanteren Teil des Experiments übergehen. Wir bringen unsere Person in eine neutrale Umgebung, wo er möglichst wenigen, störenden Sinnesreizen ausgesetzt ist, z.B. in einen abgedunkelten Tank mit lauwarmen Wasser. Nun verwenden wir ein zweites technisches Verfahren, um ihm die vorher gewonnenen Daten wieder in seine Nerven zu induzieren. Und dieser Mensch hat nun plötzlich nicht mehr das Gefühl, sich in einem Wassertank zu befinden, er wähnt sich auf der Veranda seines Hauses, hört die Vögel und riecht die Rosen. Wir haben also eine hundertprozentige Illusion geschaffen, die allerdings einen krassen Fehler hat: sie ist nicht interaktiv. Unsere Illusion bleibt also nur so lange bestehen, solange unsere Versuchsperson nicht vorhat, von ihrem Stuhl aufzustehen, oder sich an der Nase zu kratzen. Dann wird zwar der physikalische Körper im Wassertank seinen Arm zur Nase bewegen, aber unsere Versuchsperson spürt nichts davon, denn alle ihre Empfindungen stammen ja schließlich aus der Aufzeichnung. Es entsteht eine seltsame Divergenz zwischen Willen und Handel. Auch wenn er sich noch so anstrengt, er wird sich nicht aus dem Sessel erheben können. Insgesamt eine nicht sehr angenehme Situation.
Dieses Manko wird durch die sogenannte "periphere Phantomatik" behoben. Bei ihr werden auch die Daten der efferten oder motorischen Nerven berücksichtigt. Wenn wir beim vorherigen Beispiel bleiben, bedeutet das, daß die Daten, die das Gehirn an die Armmuskulatur sendet, damit man sich an der Nase kratzen kann, von einem geeigneten Gerät aufgenommen und an einen Automaten weitergeleitet werden. Dabei sollten auch noch die Verbindungen zwischen den Nerven und den ausführenden Organen (hier den Gliedmasen) unterbrochen werden, sonst führt schließlich der Körper im Wassertank die selben Bewegungen aus, wie der Mnesch in er virtuellen Realtät, was auch zu Verletzungen führen kann. Dieser berechnet nun aus diesen Informationen, Wissen um eine einprogrammierte Umwelt und einigen "physikalischen" Gesetzten die der Aktion entsprechende Reaktion. Einfacher gesagt: Wenn man den Arm bewegt, spürt man nun auch die Luftreibung, der Arm taucht im Sichtfeld auf, berührt die Nase und die Hautrezeptoren an dieser Stelle melden die Berührung. An diesem einfachen Ablauf sieht man schon die gigantischen technischen Probleme, die vor der Herstellung eines solchen Geräts zu lösen sind. Wenn wir unsere Welt mehr oder weniger vollständig simulieren wollen, müssen dem Automaten fast alle Naturgesetze bekannt sein. Er muß z.B. wissen, das die Hand nicht einfach im Kopf verschwinden darf, wenn wir unseren Finger auf die Nase drücken. Oder, daß es auf unserem Planten Schwerkraft gibt, die der Bewegung des Arms einen gewissen Widerstand entgegenstellt usw. Auch wird schnell klar, welche Verarbeitungsgeschwindigkeit dieser "weltenerzeugende Automat" haben muß, denn die menschlichen Sinne nehmen etwa 10 hoch 10 Bits pro Sekunde auf. Dazu kommt noch die Verarbeitung der efferten Nervenimpulse und die Simulation einer vollständigen, veränderlichen Umwelt hinzu. Eine solch gigantische Rechenleistung wird keiner der Computer, so wie wir sie heute kennen, je erreichen können. (Ich weiß, wie oft so etwas von einer unerreichbaren Rechenleistung in der Geschichte des Computer schon gesagt wurde, während heute jeder Taschenrechner schneller ist, als diese "physikalische Grenze", aber in diesem Fall, glaube ich, müssen wir auf so futuristische Ideen wie den Quantencomputer oder biologische Computer zurückgreifen.) Wenn allerdings ein so einfacher Vorgang schon so schwer zu simulieren ist, um wie viel schwerer ist dann eine Simulation von Menschen. Selbst ein einfaches Gespräch könnte den Rechenaufwand noch einmal um ein vielfaches steigen lassen, da die Maschine dann intelligent reagieren muß. Dabei ist natürlich klar, das es hier viele Abstufungen geben kann. Ein Gespräch mit Claudia Schiffer ist einfacher zu simulieren, als eins mit Albert Einstein. Je intelligenter und schneller der Phantomat ist, und je besser die physikalischen Gesetzte darauf abgebildet wurden, um so perfekter ist die Illusion.


Was kann ein Phantomat?

Grundsätzlich ist der Nutzen eines solchen Geräts klar: sie stellt ein perfektes Trainingsfeld für jede beliebige Tätigkeit dar. Ähnlich eines Flugsimulators wird es einen "Patientensimulator" für Chirurgen geben, eine Simulation des Mars für den Astronauten (sogar mit verringerter Schwerkraft) usw. Wenn diese Geräte allerdings einigermaßen erschwinglich sind, werden sie wahrscheinlich vor allem zu Unterhaltung genutzt, denn man kann all das Erleben, wovon man schon immer geträumt hat: man kann ein Ritter in den Schlachten des Mittelalters sein, ein Held in griechischen Göttersagen oder gar ein Hai in den Tiefen des Ozeans; die einzige Beschränkung ist die menschliche Phantasie. Mit zunehmender Realitätsnähe dieser Illusionen stellt sich allerdings die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Realität und Phantomatik.


Wie können Realität und phantomatische Illusion unterschieden werden?

Grundsätzlich ist der Person, die sich phantomatiseren läßt, natürlich bekannt, daß sie sich in diesem Zustand befindet, denn zum Erreichen dieses Zustandes sind bestimmte Vorbereitungen nötig z.B. muß man Elektroden aufsetzen oder ähnliches. An diese Vorbereitungen erinnert man sich natürlich auch noch, wenn man sich in diesem Zustand befindet und ist sich klar darüber, das man phantomisiert wurde. Es stellt sich also nicht die Frage, ob eine Illusion Realität ist, sondern ob die Realität eine Illusion sein könnte. Dies möchte ich an einem kleinen Beispiel belegen: Ein Mann begibt sich in ein phantomatisches Kino. Er wählt aus einer Vielzahl von Filmen einen Flug durch den Grand Canyon aus und löst eine Eintrittskarte. Er geht in den ihm zugeteilten Raum, bekommt von einer freundlichen Angestellten die Elektroden angelegt und befindet sich plötzlich im Grand Canyon. Schließlich ist die Vorstellung zu Ende, er nimmt die Elektroden ab und tritt hinaus auf die Straße. Plötzlich zerfallen die Häuser auf beiden Seiten der Straße zu Staub und sacken in sich zusammen, ein schreckliches Summen ertönt und ein UFO senkt sich vom Himmel und landet direkt vor ihm. Plötzlich befindet er sich wieder in dem kleinen, abgedunkelten Raum im Kino, mit den Elektroden auf dem Kopf. Die freundliche Angestellte erklärt ihm, das sein Erlebnis mit dem UFO eine Zugabe war; eine spektakuläre Vorschau auf ihren nächsten Film.
Durch dieses simulierte Aufwachen kann man also den tatsächlichen Zustand der Person verschleiern. Sogar mehrere, verschachtelte Ebenen wären möglich. Die freundliche Angestellte nach dem zweiten Aufwachen könnte schließlich auch nur eine Simulation sein...
Damit stellt sich natürlich die Frage, wie Realität und Illusion unterschieden werden können. Wie schon bemerkt, stellt es ein großes Problem dar, eine wirklich perfekte Illusion zu schaffen. Zum Beispiel können die Programmierer auf eine Simulation bestimmter körperlicher Vorgänge verzichten, um Rechenzeit zu sparen. Wenn man also noch so viel essen kann, ohne das der Hunger je gestillt wird, kann man sich fast sicher sein, das man sich in einer virtuellen Realität befindet. Das Essen, das man dort zu sich nimmt, ist schließlich auch nur virtuell. Allerdings wird das Gefühl der Sättigung, wie alle anderen Informationen auch, durch Nerven weitergeleitet und wenn man schon die anderen Nervensignale manipuliert, warum nicht auch diese? Während der physikalische Körper intravenös ernährt wird "ißt" man in der virtuellen Realität Hummer und Kaviar und spürt nie ein Hungergefühl. Dieses relativ einfache Unterscheidungsmerkmal fällt also mit der Entwicklung der Phantomaten in Richtung technische Perfektion weg.
Ebenso verhält es sich mit einem anderen Unterscheidungsmerkmal, der mangelnden Intelligenz der Automaten. Auch ein schneller Rechner kann nur einen virtuellen Gesprächspartner, vielleicht auch zwei, simulieren. Bei mehreren muß er seine auf sie Intelligenz verteilen, um dem Gespräch richtig folgen zu können. Das hat zur Folge, daß die Gesprächspartner relativ dumm wirken und nur stereotype Antworten geben können, eventuell auch sehr lange Nachdenken müssen, um eine Antwort zu geben. Wie will man allerdings hier zu einem einigermaßen sicheren Ergebnis kommen? Es kann schließlich sein, daß man an einem Tag nur Idioten trifft, dies ist allerdings noch kein Beweis für eine Phantomatisierung. Außerdem sind die meisten alltäglichen Gespräche kaum geeignet, um auch nur einen halbwegs intelligenten Computer in die Enge zu treiben, denn wer spricht schon jeden Tag mit seinen Freunden über die Relativitätstheorie. Viel eher kann man einen Computer über die Darstellung der Umgebung entlarven. So ist es ein enormer Rechenaufwand, fraktale Gebilde wie Wolken oder die Bewegungen der einzelnen Halme in einem Weizenfeld zu berechnen. Auch der Tanz von trockenen Blättern im Wind oder ähnliches stellt den Computer vor enorme Aufgaben, denn überall hier muß die Bewegung kleinster Partikel möglichst wirklichkeitsnah berechnet werden. Ebenso aufwendig ist die Darstellung eines Blicks über eine weite Ebene oder das Meer. In diesem Fall kann nämlich die Berechungstiefe nicht begrenzt werden. Um ein geschlossenes Zimmer an einer Straße zu simulieren, muß man nicht den Fahrzeug- und Personenstrom der ganzen Stadt berechnen, nur damit die Autos an eben diesem Haus vorbeifahren können. Es reicht völlig aus, in einer möglichst zufälligen Reihenfolge verschiedene Autos in einem zufälligen Abstand vorbeifahren zu lassen. Eine solche Vereinfachung ist natürlich bei einem Blick über die Ebene nicht möglich. Ein rotes Auto, das hier hinter einem Haus verschwindet, darf nicht aufhöhren zu existieren oder gar als grünes wieder zu Vorschein kommen. Natürlich können auch hier gewisse Vereinfachungen vorgenommen werden; man muß natürlich nicht jede Tannennadel darstellen, um einen Wald zu erhalten. Allerdings wird der große Rechenaufwand allein für die Darstellung diese Umgebung, zusammen mit einem Gespräch über fortgeschrittene Automaten- und Informationstheorie, den Computer vor ziemliche Probleme stellen. Es könnte in diesem Fall sein, daß die Darstellung kurzzeitig ganz zum Stillstand kommt (ruckelige Darstellung) oder das einfach die Detailschärfe reduziert wird. Allerdings wird mit zunehmender Rechenleistung, oder auch neuen Berechnungs- und Verallgemeinerungsverfahren, die Wahrscheinlichkeit eine solchen Entarnung abnehmen.
Eine weitere Möglichkeit der Unterscheidung sind die kleinen Geheimnisse, die wir alle in uns tragen. Wenn man also z.B. ein paar Bilder in seinem Safe eingesperrt hat und niemand von ihnen weiß, kann auch der Programmierer einer virtuellen Realität sie nicht in seine Version der Realität mit einbeziehen. Also wird der Safe leer bleiben. Will man also den Unterschied zwischen Realität und Illusion verschleiern, muß man den Menschen entweder in eine völlig unbekannte Umgebung versetzten oder ihm alle Vergleichsmöglichkeiten entziehen. Ersteres kann man leicht dadurch erreichen, daß man wartet, bis sich die Person in einer ihm völlig unbekannten Umgebung befindet und in dort phantomatisieren. Die zweite Möglichkeit läßt sich nur mit einem gewissen "Aufsehen" verwirklichen. So kann unser alter Bekannter, der eben erfahren hat, das das UFO nur eine weitere Illusion war, das Kino verlassen, nach Hause fahren und dort vor den Trümmern seines Hauses stehen. Auf seine Nachfrage bei seinen Nachbarn oder der Polizei wird er erfahren, das bei Straßenbauarbeiten vor seinem Haus eine alte Fliegerbombe ausgegraben wurde und dann explodierte. Dabei wurde sein Haus in Schutt und Asche gelegt. Unser Bekannter hat jetzt keine Möglichkeit mehr, sich sicher zu sein, ob er sich in einer Illusion befindet oder in der Wirklichkeit, denn sein ganzes Hab und Gut ist schließlich mit seinem Haus in Rauch aufgegangen. Wenn unser armer, geplagter Freund vielleicht auch noch Familie hat, kann man es so arrangieren, daß sich alle Familienmitglieder zum Zeitpunkt der Explosion im Haus befanden. Damit kann man sich auch die aufwendige und fehlerträchtige Simulation der Personen, die ihm am nächsten stehen, sparen. Allerdings ist es nicht möglich, alle Freunde und Bekannten der Person zu "beseitigen", ohne den Verdacht des Opfers zu erwecken. Ebenso ist es unmöglich für den Erschaffer der virtuellen Welt alle Personen mit denen unser Opfer je zu tun hatte, wirklichkeitsgetreu abzubilden. Der Aufwand an Recherche und Programmierung wäre viel zu groß. Ebenso besteht bei der peripheren Phantomatik kein Zugriff auf die Gehirnfunktionen und damit den Gedächtnisinhalt, um sich so die Informationen quasi "Online" zu besorgen. (Daher auch der Name "periphere Phantomatik", da sich der Zugriff auf das Gehirn auf die Nervenbahnen von und zum Gehirn beschränkt.) Daher kann es zu "Gedächtnislücken" und fehlendem Erinnerungsvermögen bei den dem Opfer nahestehenden Personen kommen. Aber wo soll man auch hier den Maßstab anlegen? Großer Veränderungen im Leben einer Person oder die oben genannten Gedächtnislücken sind vielleicht Anzeichen einer Phantomatisierung, aber kein Beweis.


Vom Nutzen der Erkenntnis und der Maschine

Wie man an den oben aufgezählten Möglichkeiten sieht, kann man einen perfekten Phantomaten nicht enttarnen, man kann nur Anzeichen für eine Phantomatisierung finden, sie jedoch nicht bestätigen. Jetzt stellt sich allerdings die Frage, warum man einen Menschen ohne sein Wissen phatomatisieren sollte, und vor allem, was ihm das Wissen über seinen Zustand eigentlich bringt, wenn er tatsächlich einmal mit Sicherheit darüber Bescheid weiß. Um es kurz zu sagen: Nichts. Er kann schließlich weder aus der für ihn geschaffenen virtuellen Welt fliehen, noch kann er Hilfe holen. Er kann natürlich die Polizei rufen, diese würde allerdings auch nur innerhalb der virtuellen Realität existieren und kann ihm so kaum helfen. Auch kann er seinen realen Körper nicht bewegen und so auch nicht weglaufen oder um Hilfe rufen. Seine einzige Chance wäre vielleicht ein Stromausfall, der den Phantomaten lahmlegt, oder daß er es schafft die Maschine so stark zu belasten, das sie zusammenbricht. Ersteres ist zwar durchaus möglich, kann aber nicht vom Opfer selbst herbeigeführt werden. Letzteres ist, wie ich oben abgeführt habe wahrscheinlich nur bei den frühen, einfachen Modellen möglich, nicht aber bei einer fortgeschrittenen Version. Selbst kann er sich also nicht aus den Fängen des Phantomaten befreien. Aber vielleicht ist die oben gestellte Frage falsch. Sollte sie nicht eher lauten: Wie ernst nimmt er Mensch die Wirklichkeit, wenn er sie nicht mehr von einer maschinenerzeugten Illusion unterscheiden kann? Eins ist auf alle Fälle sicher: die Psychiater werden in einer solchen Welt viel Arbeit haben. Viele Menschen werden zu ihnen kommen mit der Gefühl, sich in einer phantomatischen Illusion zu befinden. Angstneurosen werden zu einer neuen Blüte kommen, jedes seltsame Verhalten und jeder scheinbar zufällige Vorgang wird bei diesen Menschen neue Zweifel an der Realität wecken. Sie werden sich vor der Welt verschließen und mit niemanden über ihre Entdeckungen sprechen, da dies ja auch nur virtuelle Gespräche mit einer Maschine wären, die daraus neue Informationen erlangen kann, um die Illusion zu perfektionieren.
Allerdings glaube ich, das die Auswirkungen auf die Gesellschaft als ganzes wesentlich geringer sind, als wir uns das heute vorstellen. Schließlich scheint der Zweifel an der Wirklichkeit zum Menschen dazuzugehören. Schon die griechischen Philosophen haben sich darüber Gedanken gemacht, ob nicht nur ein einziges Lebewesen in diesem Universum existieren könnte. Vielleicht bin ich, während ich diese Zeilen schreibe, allein in dieser Welt und alle anderen Menschen sind nur Ausgeburten meiner Phantasie. Mein Gegenüber kann mir nicht beweisen, daß es existiert, denn schließlich bekomme ich Informationen nur über meine Sinne und wer sagt mir, das diese Informationen richtig sind? Wie dem auch sei, wir können nichts anderes tun, als zu leben. Wir haben keine Möglichkeit, unsere Gedanken zu überprüfen. In der selben Situation werden sich auch die Menschen in einer Welt der Phantomatik befinden und so werden sie die Welt so akzeptieren, wie sie ist.
Aber um jetzt noch einmal auf die den ersten Teil der ursprünglichen Frage zurückzukommen: Warum sollte man Menschen gegen ihren Willen in eine virtuelle Welt entführen? Dafür gibt es einige denkbare Anwendungebiete und ich denke dabei nicht nur an Verbrecher. Es ist natürlich denkbar, daß einige sadistische Verrückte auf die Idee kommen Unschuldige zu kidnappen, sie zu phantomatisieren und dann ihrem virtuellen Körper unsagbare Qualen zuzufügen. Das Opfer würden diese Schmerzen genau so empfinden, als ob sein realer Körper gequält würde. Wenn das Opfer dann zur Polizei geht, nachdem es freigelassen wurde, kann es natürlich nichts bewiesen, denn sein Körper weist keine Striemen, Wunden oder sonstige Merkmale einer Mißhandlung auf. Diese Vision halte ich allerdings eher für unrealistisch und übertrieben. Denkbar wäre jedoch ein virtuelles Gefängnis. Dabei werden die Gefangenen bei ihrer "Einlieferung" phantomatisiert. Ihnen wird die wirklichkeitsgetreue Simulation einer Gefängnisumgebung vorgespielt. Dies hat den großen Vorteil, daß man die Gefangenen sehr platzsparend unterbringen kann, denn sie können sich nicht bewegen. Eine Kammer, kaum größer als der Körper des Gefangenen wäre nötig. Ebenso können die Gefangenen billig über Tropf und Nährlösung ernährt werden. Es entfallen außerdem die Kosten für das Wachpersonal, es sind schließlich keine Ausbrüche möglich. Wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, kommt man schließlich zu einer vollständig phantomatisierten Zivilisation. Die Vorteile sind offensichtlich: auch hier benötigt man wesentlich weniger Platz auf unserer überbevölkerten Erde, man muß nicht viele Ressourcen darauf verschwenden, um den Menschen das Leben in einem gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Jeder kann das haben, was er benötigt und was er sich erträumt, es ist schließlich kein Aufwand nötig, um es ihm bereit zu stellen. Der Maschine ist es egal, ob sie ein Leben in Armut oder in Reichtum simuliert. Es gäbe keine sozialen Spannungen oder Zwistigkeiten zwischen den einzelnen Menschen, es könnte jeder in seiner eigenen Welt leben. Er hat nur dann Kontakt zu den anderen Menschen, wenn er es wünscht, sonst kann er mit virtuellen Lebewesen zusammenleben. Natürlich ist eine solche Welt für uns heute eine Schreckensvision, aber es könnte sein, daß die Menschen sich mit fortschreitender Umweltzerstörung und sinkendem Lebensstandard gerne in eine solchen Welt flüchten. Ich glaube jedoch nicht, daß dies für die Dauer eines ganzen Lebens geschehen wird, oder auch nur möglich ist. Man denke da allein an die physischen Folgen. Wahrscheinlich würden diese Menschen sehr früh an Bewegungsmangel und Muskelschwund zu Grunde gehen, ebenso ist natürlich keine Fortpflanzung mehr möglich. Diese "Flucht" könnte man also eher als angenehmen Selbstmord bezeichnen. Ich glaube also nicht, daß die Wahrscheinlichkeit besonders groß sein wird ohne sein Wissen in einen phantomatisierten Zustand versetzt zu werden, die Auswirkungen und Verunsicherungen dieser wenigen Fälle wird allerdings um so größer sein.
Viel gefährlicher sind meiner Meinung nach die auch heute schon diskutieren Phänomene des Realtätsverlusts und der Brutalisierung der Gesellschaft. Heute ist jedem Kind ab einem gewissen Alter klar, das die Szenen die auf dem Fernseher oder auf der Leinwand ablaufen, nur gespielt sind. Wie viel schwerer wird diese Unterscheidung, wenn es keinen trennenden Bildschirm zwischen Akteur und Zuschauer mehr gibt oder gar der Zuschauer aktiv an der Handlung teil nimmt. Irgendwann wird kaum mehr eine Unterscheidung zwischen dem realen Erlebnissen und den Fiktionen mehr geben. Die eigenen Erinnerungen werden nicht mehr genau darüber Auskunft geben können, ob man etwas in der Realität erlebt hat oder ob es nur eine Illusion war. Das hört sich zuerst gar nicht so schlimm an. Ob jemand nicht mehr weiß, ob er Paris schon in der Realität oder nur als phantomatischen Film erlebt hat, ist nicht so schlimm. Wenn jemand allerdings nicht mehr weiß, ob er in der Realität von einem Schwarzen ausgeraubt wurde oder ob er sich nur einen Krimi angeschaut hat und seitdem alle Schwarzen haßt, ist ein großer Unterschied. Wahrscheinlich ist, daß die Menschen in Laufe der Zeit eine Art Machtgefühl entwickeln werden. In einer phantomatischen Illusion sind sie immer der Mittelpunkt, sie werden nie abgewiesen und nie verletzt. Auch können sie in der virtuellen Realität im Prinzip alles tun, ohne je dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Gefahr, daß sie dieses Verhalten auf die Wirklichkeit übertragen werden, ist groß. Wesentlich gefährlicher, als z.B. im Fernsehen wird die Gewaltdarstellung sein, vor allem wenn der Zuschauer dabei die Rolle des Akteurs spielt. Es ist die Frage, ob viele Menschen noch in der Lage sein werden, ihre eigene Gewalttätigkeit noch unter Kontrolle zu halten, wenn sie ein solch gutes "Trainingsfeld" haben. Allerdings kann auch hier ein gegenteiliger Effekt der sozial verträglichen Kompensation der Aggressivität und Gewalt der Menschen auftreten.
Insgesamt liegt es einmal wieder beim Menschen, ob diese Technologie zum Fluch oder zum Segen für die Menschheit verwendet wird. Allerdings stellt diese Technologie die Gesellschaft vor neue soziale, aber vor allem philosophische Probleme. Dennoch ist diese Idee eine phantastische Bereicherung des menschlichen Geistes, der durch sie die Möglichkeit haben wird, ganze Welten zu erschaffen und sie dann auch noch zu betreten. Und genau so sieht Lem diese Technologie: als Vorstufe zu allgemeinen Pantocreatik, der Kunst Welten zu erschaffen, erst im virtuellen, dann im realen Sinne.


Wann ist diese Technologie verfügbar, und ist sie überhaupt verwirklichbar?

Während meines Referats über dieses Thema habe ich die Meinung geäußert, das diese Technologie frühestens im Jahre 2050-70 bereitstehen würde. Inzwischen bedaure ich, das ich mich zu einer solch konkreten Zeitangabe hinreißen ließ. Diese Angabe basiert zwar auf der Annahme einiger Futurlogen, daß bis dahin das nötige Wissen über die Funktionsprinzipien des Gehirn bereitstehen würden, jedoch glaube ich nicht, daß dieses Wissen so direkt in eine solche Technologie ungemünzt werden kann. Denn es ist dazu wesentlich mehr nötig als nur das Wissen, wie die Nerven genau die Daten weiterleiten oder wie sie vom Gehirn verarbeitet werden. Es muß auch die Technologie bereitstehen, die Nerven zum Gehirn entsprechend zu reizen, um Daten in sie einzuspeisen. (Lem schlägt hier schwache Maserimpulse vor, die auf die Nerven einwirken, ohne einen Schaden anzurichten.) Ebenso ist die Rechnerleistung zur Erzeugung einer virtuellen Welt bereitzustellen. Ob das alles bis zum genannten Zeitpunkt möglich ist, halte ich für zweifelhaft. Jedoch sollte man sich nicht auf das ungenaue Geschäft der konkreten Futurlogie einlassen, denn man begibt sich dabei unweigerlich in den Bereich der Wahrsagerei. Es kann sein, daß morgen schon ein genialer Wissenschaftler bekannte Fakten neu kombiniert und diese Technologie ab dann zur Verfügung steht, es kann aber auch sein, daß ihr uns bis heute völlig unbekannte Naturgesetze im Weg stehen.
Im Anschluß an mein Referat wurde ich gefragt, ob ich glaube, daß diese Technologie je zur Verfügung steht, und wenn das der Fall ist, ob es eigentlich nicht viel zu teuer ist, sie der breiten Masse zur Verfügung zu stellen. Beides kann meiner Meinung nach mit ja beantwortet werden. Natürlich sind die Probleme die ihr im Weg stehen groß, aber nicht unüberwindbar. Die Tatsache, daß wir heute keine Erfahrung mit einer direkten Neuronalverbindung zwischen dem menschlichen Gehirn und einem Computer haben, bedeutet noch lange nicht, daß so etwas unmöglich ist. Die zweite Frage ist dann schon wesentlich interessanter. Selbst, wenn die Technologie zur Verfügung steht, können sich dann so viele Menschen diese Einrichtung leisten, daß sie wirklich zur Unterhaltung, wie ich es in meinem Text dargestellt habe, eingesetzt werden kann? Vielleicht ist es tatsächlich so, das Phantomaten, ähnlich wie die heutigen Flugsimulatoren, nur von großen Firmen zum Training eingesetzt werden, während die Bevölkerung mit wesentlich weniger leistungsfähigen Geräten vorlieb nehmen muß. Wenn man jedoch vor vierzig Jahren einen Wissenschaftler gefragt hätte, ob er sich vorstellen kann, daß je 10jährige Kinder einen Computer zur Verfügung haben, die das Vielfache der Leistung der damaligen Computer haben und zum Spielen genutzt werden, hätte wahrscheinlich jeder mit nein geantwortet. Es kann als sein, daß es sich bei dieser Technologie ähnlich verhält.


Biblographie

  1. Stanislaw Lem: Summa Technologiae, 1967, Insel Verlag
  2. Stanislaw Lem: Kyberiade, 1965, Insel Verlag

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