Die Bäcker-Transformation




Seminararbeit Chaosforschung FH München SS 95


Verfasser: Roland Essl

 
Die Bäcker-Transformation kann als eines der grundlegensten Kapitel der
Chaosforschung angesehen werden, wenn es darum geht, die Welt des Chaos
verstehen zu lernen. An ihr läßt sich beobachten, wie Chaos trotz fester
Regeln entstehen kann.

  1. Modellvorstellung des Knetvorgangs
  2. mathematische Beschreibung
  3. Sensitivität auf die Anfangsbedingungen
    als Ursache scheinbarer Regellosigkeit
  4. Vorhersagezeitraum
  5. Die Bäcker-Transformation
    und die Paradigmen der Chaosforschung
  6. Simulation als Pascal-Quelltext
  7. Literatur
     

1 Modellvorstellung des Knetvorgangs

Zugrundegelegt wird folgendes Modell:
In einem Brotteig mit der Länge l=1, der Breite b=konst. und der Dicke d=1
befindet sich eine punktförmige Rosine, d.h. ihre räumliche Ausdehnung wird
vernachlässigt. Der Bäcker walzt den Teig bei jedem Knetvorgang vom Körper
weg auf die doppelte Länge (l=2) aus. Die Rosine ist dann doppelt so weit
vom Teiganfang(x=0) entfernt wie vor dem Auswalzen, genau wie das auch bei
allen anderen Bestandteilen des Teiges der Fall ist.
Wenn man annimmt, daß b und das Volumen des Teiges stets konstant bleiben,
muß d sich bei einer Verdoppelung von l halbieren. Entsprechend halbiert
sich auch der Abstand y zwischen Rosine und Tischplatte(y=0).
In der zweiten Phase jedes Knetzyklus schneidet der Bäcker den Teig in der
Mitte durch (l wird wieder halbiert) und legt die hintere Hälfte (=weiter
vom Bäcker entferntere Hälfte) auf die vordere.
Der Teig hat jetzt wieder die anfänglichen Abmessungen und der nächste
Knetzyklus kann beginnen.

2 mathematische Beschreibung



Lag die Rosine in der vorderen Hälfte, so ist ihre x-Position nach der
zweiten Knetphase die gleiche wie nach der ersten. Auch ihre Höhe (y) ver-
ändert sich beim Durchschneiden und Aufeinanderlegen nicht mehr. Anders
verhält es sich, wenn sich die Rosine in der hinteren Hälfte befand: Der
Abstand, um den der Bäcker die hintere Hälfte beim Aufeinanderlegen zu-
rückversetzt (=Ausgangslänge=1), muß von der x-Position der Rosine abge-
zogen werden. Weil die hintere Hälfte jetzt auf der vorderen liegt, wird
die Dicke der vorderen Hälfte (=Ausgangsdicke/2=0.5) zur y-Position der
Rosine addiert.

  
   x      =   2 x  mod 1
    i+1          i

                0.5 y          f^nr 0 <= x < 0.5      (vordere HSigmalfte)
             /       i                   i
   y      = {
    i+1      \
                0.5 y + 0.5    f^nr 0.5 <= x <= 1      (hintere HSigmalfte)
                     i                     i


   mit 0 <= x <= 1 und 0 <= y <= 1


mod 1 (=Rest einer Division durch 1) entspricht hier einer Subtraktion
von 1, und zwar immer dann, wenn sich die Rosine in der hinteren Hälfte
befindet.

3 Sensitivität auf die Anfangsbedingungen
als Ursache scheinbarer Regellosigkeit



Da nun die Regeln, nach denen der Vorgang ablaufen soll, genau festgelegt
sind (=determiniert -> deterministisches Chaos, siehe W. Eberl S.7), ließe
sich vermuten, daß sich bei bekannter Ausgangsposition der Rosine x und y
für jeden Zyklus berechnen lassen und auf diese Weise eine Vorhersage
gemacht werden kann.
So ergibt sich z.B. für die Anfangskoordinaten x=0.300000000 und
y=0.200000000 nach 32 Knetzyklen für x etwa 0.8 und für y etwa 0.2, d.h.
die Rosine liegt dann in der unteren Hälfte. Nimmt man an, daß man wie im
oberen Beispiel die Anfangsposition auf 9 Stellen genau bestimmen kann, dan
das in unserem Fall nicht einmal ausreichend, um sicher vorhersagen zu können,
daß sich die Rosine nach 32 mal Kneten wirklich unten befindet. Läge die
Rosine in Wirklichkeit z.B. auf x=0.3000000001, das wäre bei einer Teiglänge
von einem Meter eine Differenz von 10^-10 m, was etwa der Größe eines Atoms
entspricht (W. Eberl, S.11), würde sie nach 32 mal Kneten nicht unten, sondern
oben liegen.
In der Chaosforschung bezeichnet man einen solchen Effekt als "Sensitivität
auf die Anfangsbedingungen" (W.Eberl, S.7). Das bedeutet nichts anderes,
als daß sich eine anfängliche Meßungenauigkeit von Zyklus zu Zyklus
stärker auf das Ergebnis auswirkt. Wenn man erst einmal um dieses Problem weiß, mag
es trivial erscheinen und es läßt sich auch nichts "Chaotisches" mehr daran
finden.
Aber stellen wir uns jetzt jemanden vor, der tatsächlich das Verhalten von
Rosinen im Brotteig untersuchen möchte: Womit würde er beginnen? - Er
würde versuchen, ausgehend von verschiedenen Startpositionen, die Position der
Rosine nach einer bestimmten Anzahl Knetzyklen zu notieren, um dann eine
Regelmäßigkeit darin finden zu können. Für die ersten paar Zyklen
gelänge ihm das voraussichtlich, aber das weitere Verhalten der Rosine würde unser
Forscher als "chaotisch" bezeichnen, da es dem Anschein nach regellos ist.
Hat man sich jedoch ein Modell wie das unsrige, so stark vereinfacht es auch
sein mag, zurechtgelegt, läßt sich das chaotische Verhalten erklären, und
es lassen sich weitere Aussagen machen.

4 Vorhersagezeitraum



Es könnte z.B. von Interesse sein, wie genau man die Anfangsposition kennen
muß um eine Vorhersage über eine vorgegebene Anzahl Zyklen hinweg treffen zu
können. Dazu betrachten wir die x-Position der Rosine, die ja entscheidend dafür ist,
in welcher Hälfte sich die Rosine nach dem Durchschneiden befindet.
In Binärdarstellung bedeutet die Multplikation mit 2 eine Verschiebung aller
Stellen nach links, z.B.

dezimal: 4 -> binär: 100 multipliziert mit 2=
dezimal: 8 -> binär: 1000

D.h., für jedes Mal Kneten wird 1 neue Binärstelle benötigt. Das bedeutet,
daß x mindestens auf i Binärstellen genau bekannt sein muß, wenn der Vor-
hersagezeitraum i Zyklen beträgt. Es ist jedoch zu beachten, daß bei einer entsprechend
ungünstigen Anfangsposition der Übergang zum Chaos bereits eher einsetzt. Dazu kann man
sich z.B. vorstellen, daß die Linie, entlang derer der Bäcker den Teig zerschneiden
wird, nach dem ersten Mal Auswalzen in dem Bereich liegt, in dem sich die
Rosine im Rahmen der Meßgenauigkeit aufhalten kann (x etwa =0.5). In diesem Fall
wäre eine Aussage, ob sich die Rosine bereits nach dem ersten Durchschneiden
oben oder unten im Teig befindet, unmöglich.
Die kurzfristige Vorhersage ist bei der Bäcker-Transformation also nur
bedingt sicher, ähnlich der Wettervorhersage bis zum nächsten Tag. Denn auch
hier können ungünstige Bedingungen selbst eine kurzfristige Vorhersage un-
möglich machen.
Anhand einer Simulation der Bäcker-Transformation kann man jedoch leicht
feststellen, wann der unscharfe Bereich, der ja mit jedem Zyklus seine Größe
verdoppelt, zum ersten Mal über der Trennlinie liegt: Man läßt 2 Rosinen,
jeweils mit der im Rahmen der vorgegebenen Meßgenauigkeit minimal und maximal
möglichen x-Position starten und führt genau so viele Zyklen durch, bis sich
die Rosinen in zwei verschiedenen Hälften befinden.
Eine solche Simulation finden Sie am Ende dieser Ausführung als Pascal-
Quelltext.

5 Die Bäcker-Transformation
und die Paradigmen der Chaosforschung

(s. W. Eberl, S.73)

Eingangs wurde auf die grundlegende Bedeutung der Bäcker-Transformation
für die Chaosforschung hingewiesen. Hier soll nun ein Zusammenhang zu
allgemeinen Kennzeichen chaotischen Verhaltens hergestellt werden.

6 Simulation als Pascal-Quelltext


{$E+}{$N+}
program rosine;       {(C) by R.Essl 1995}
uses crt,graph;
const d1: array[1..4] of pointtype =
          ((x:0;y:205),(x:9;y:215),(x:0;y:225),(x:0;y:205));
const d2: array[1..4] of pointtype =
          ((x:429;y:205),(x:419;y:215),(x:429;y:225),(x:429;y:205));
var dr,mo,z:integer;
    xb,yb,xr,yr:extended;
    a:char;
procedure drawrosine(x,y:extended;c:integer);
begin
  setcolor(c);setfillstyle(1,c);   {Umrechnung auf Bildschirmkoord.}
  fillellipse(round((x*399)+15),round(399-(y*399)+15),5,5);
end;
procedure zyklus(c:integer);
var text:string;
begin
  settextstyle(smallfont,horizdir,15);
  str(z,text);setcolor(c);
  outtextxy(450,40,text);
  outtextxy(451,40,text);
  outtextxy(450,41,text);
  outtextxy(451,41,text);
end;

begin
  dr:=9;mo:=2;
  initgraph(dr,mo,'');

  xb:=0.3000000001;yb:=0.2;  {Anfangskoordinaten der beiden Rosinen}
  xr:=0.3;yr:=0.2;

  z:=0;
  repeat
    settextstyle(smallfont,horizdir,15);   {Bildaufbau}
    settextjustify(lefttext,toptext);
    setrgbpalette(0,0,0,0);
    setrgbpalette(1,255,255,255);
    setrgbpalette(2,255,0,0);
    setrgbpalette(3,0,0,255);
    setcolor(1);setfillstyle(1,1);
    bar(0,0,9,419);bar(0,420,419,429);
    bar(420,429,429,10);bar(429,9,10,0);
    setcolor(0);setfillstyle(1,0);
    fillpoly(4,d1);fillpoly(4,d2);
    setcolor(1);
    outtextxy(450,0,'Zyklus:');
    outtextxy(451,0,'Zyklus:');
    outtextxy(450,1,'Zyklus:');
    outtextxy(451,1,'Zyklus:');

    drawrosine(xr,yr,2);drawrosine(xb,yb,3);   {Rosinen auf Startposition}
    zyklus(1);
    a:=readkey;
    while (ord(a)<>27) and (ord(a)<>101) do    {Zyklus}
    begin
      drawrosine(xr,yr,0);drawrosine(xb,yb,0);    {Rosinen löschen}
      zyklus(0);inc(z);
      xb:=2*xb;yb:=yb/2;                          {neue Koordinaten}
      if xb>=1 then begin xb:=xb-1;yb:=0.5+yb;end;
      xr:=2*xr;yr:=yr/2;
      if xr>=1 then begin xr:=xr-1;yr:=0.5+yr;end;
      drawrosine(xr,yr,2);drawrosine(xb,yb,3);    {Rosinen auf neue Koord.}
      zyklus(1);
      a:=readkey;
    end;
    if ord(a)=101 then                 {Eingabe neuer Koordinaten mit 'e'}
    begin
      restorecrtmode;
      clrscr;
      write('xb: ');readln(xb);
      write('yb: ');readln(yb);
      write('xr: ');readln(xr);
      write('yr: ');readln(yr);
      setgraphmode(vgahi);
    end;
  until ord(a)=27;
  closegraph;
end.
Ein "Wandern" der Rosinen in die Ecken entsteht, wenn die Anfangskoor-
dinaten so gewählt sind, daß die Rosine exakt auf der Trennlinie zu liegen
kommt, bzw. wenn die Rechengenauigkeit erschöpft ist.

7 Literatur


Dr. Werner Eberl
Grundlagen und Methoden zur nichtlinearen Dynamik
Auflage 1994
Verlag Kunst und Alltag, München