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Teil 1

Dr. Derbolowsky:
Verehrtes Auditorium, es freut mich gemeinsam mit Frau Prof. Gerhard und Herrn Dr. Kieper als Initiatoren, daß Sie den Weg hierher gefunden haben, um unserer Gesprächsrunde als Zuhörer beizuwohnen. Sie zeigen damit, daß Sie sehr wach sind und trotz der nur kurzen Beschreibung der Ankündigung zu diesem Gespräch die Möglichkeiten erkannt haben, die das Mithören eines solchen Gesprächs bieten kann und - da bin ich ganz sicher - auch bieten wird. Wir werden gleich mit der Diskussionsrunde beginnen, da die Teilnehmer alle frühzeitig ihr Ausgangsstatement für dieses Gespräch untereinander ausgetauscht haben. Leider hat Herr Dr. Schorre kurzfristig absagen müssen, da überraschende Ereignisse seine persönliche Anwesenheit heute in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erforderlich gemacht haben. Er bedauert seine Abwesenheit sehr, insbesondere da er glaubt, daß solche Basisdiskussionen wertvolle und notwendige Impulse, gerade auch für die politisch Verantwortlichen, geben können.

Liebe Gesprächspartner in dieser Runde, wir haben ja teilweise gestern abend ein wenig zusammengesessen und uns schon etwas persönlich kennengelernt. Und da Ihnen die Statements der anderen Teilnehmer bekannt sein dürften, können wir, auf dieser Basis aufbauend, direkt beginnen.

Ich schlage vor, daß wir zunächst den Rahmen der Erwartungen klären, den jeder von Ihnen an den heutigen Vormittag legt. Ich bitte Sie daher, zunächst zu sagen, was Sie sich von dem heutigen Vormittag erhoffen, oder, wie es Prof. Pietschmann gestern formuliert hat, was Ihren Willen dazu gebracht hat, Ihre Teilnahme auch materiell zu verwirklichen. Bitte, Herr Prof. Pietschmann, vielleicht fangen Sie gleich an.

Prof. Pietschmann:
Diese Frage ist insofern schwer zu beantworten, weil ich nämlich glaube, daß man sich von so einem Gespräch am besten inhaltlich nichts erhofft, denn sonst wird man enttäuscht. Das heißt, das, was ich mir erhofft habe, ist das, was eigentlich jetzt schon eingetreten ist, daß hier die verschiedensten Leute zusammen sitzen und in den nächsten vier Stunden miteinander sprechen können. Vielleicht darf ich ein Wort dazu sagen: Ich habe mittlerweile sehr, viel Erfahrung in interdisziplinären Ansätzen. Das, was man heute Interdisziplinarität nennt, nenne ich die unechte Interdisziplinarität. Da gibt es zwei Möglichkeiten: entweder eine Disziplin ist Hilfswissenschaft für die andere, oder die Leute reden alle von den verschiedenen Disziplinen zum selben Thema hintereinander, ohne miteinander zu reden. Das Miteinander-Reden erfordert eine ungeheure Anstrengung, eine persönliche Zuwendung und vor allem auch den Mut, sich einzugestehen, daß gewisse Begriffe einmal schlampig verwendet werden - natürlich immer von anderen!

Dr. Derbolowsky:
Vielen Dank!

Prof. Demling:
Mit dem Begriff Chaos bin ich - ich war Direktor der Medizinischen Universitätsklinik in Erlangen - in Berührung gekommen vor ungefähr zehn Jahren. Und zwar erschien damals eine Arbeit in ,,GEO`` und - ich komme auf das Thema noch am Schluß ganz kurz zu sprechen - es ist mir klar geworden, daß chaotische Systeme auch den Menschen mit umgreifen, der Mensch ist auch ein chaotisches System. Was heißt das nun? Dies wird sicher noch genauer definiert werden. Chaotisch ist etwas, oder Chaos ist etwas, was der Mensch nicht voraussieht, was er nicht überblickt und was er nicht steuern kann. Das ist aber auch rein menschliche Sicht ... Was hat die Chaosforschung für die Medizin bis jetzt gebracht oder was verspricht sie zu bringen?

Dr. Derbolowsky:
Darf ich Sie unterbrechen? Ich bitte Sie, zunächst nur die Frage zu beantworten, was Sie sich von heute Vormittag versprechen.

Prof. Demling:
Ich verspreche mir davon, daß beantwortet wird, was die Chaosforschung oder die Erforschung dynamischer Systeme (wie es neuerdings heißt) für die Medizin bringen kann im Hinblick auf Prognose, Diagnostik, eventuell auf Therapie und auf ihr Verhältnis zu anderen Disziplinen, insbesondere zur Jurisprudenz. Da habe ich mich von Anfang an daran gestoßen, weil die Juristen hartnäckig behaupten, der Doktor müßte alle seine Handlungen und die Konsequenzen seiner Handlungen im einzelnen voraussehen. Auf der einen Seite nehmen die Juristen hin, daß die Wettervorhersage nicht länger als vier Tage einigermaßen genau geht, aber vom Doktor verlangen sie via Aufklärung, daß er alles voraussagen soll. Die Juristen müßten im nächsten Jahr ein großes Fest feiern, denn im Jahre 1894 hat das Reichsgericht am 31.05. festgelegt, daß jeder ärztliche Eingriff eine Körperverletzung sei, es sei denn, der Arzt klärt den Patienten auf. Und die haben das bis heute so ausgefeilt, daß es einfach nicht mehr durchführbar ist. -Ich verspreche mir von der heutigen Sitzung, daß man auf der einen Seite die Vorteile der Chaosforschung unmittelbar für den Patienten aufzeigt, auf der anderen Seite aber auch zu erkennen gibt, daß sich die Juristen einer Fiktion hingeben.

Dr. Derbolowsky:
Vielleicht sollten wir für das nächste Mal einen Juristen mit einladen. Frau Prof. Sich.

Prof. Sich:
Meine Erwartung ist, was dieses Gespräch betrifft, ganz offen. Wir kommen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen, und ich bin neugierig, wie wir mit diesem Thema, also ,,Medizin, Krise, Probleme, Auswege`` miteinander umgehen, wie wir aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen in die Lage kommen, unser Anliegen zu präzisieren und damit weiterzukommen. Ich denke, daß wir in diesem Bereich, um auf Dauer weiterzukommen, verbindliche Konzepte brauchen, um uns miteinander über das zu verständigen, über das wir reden. Das ist in der Medizin ein ganz großes Problem, so wie ich es erfahren habe. Für mich ist wichtig, daß die Bindung einer solchen Diskussion auch an die Erfahrungen erfolgt, die Patienten und alle relevanten Individuen, die mit einem Erkrankungsprozeß zu tun haben, machen bzw. sie in ihre theoretischen Konzepte miteinbezieht. Der Hintergrund, aufgrund dessen mich dies beschäftigt, ist die Situation von Menschen in unterschiedlichen Kulturen oder aus unterschiedlichen Kulturen, die mit unserer medizinischen Praxis zu tun bekommen und von denen ein Großteil niemals gesund wird. An denen zeigt sich das Problem, das mich beschäftigt, am deutlichsten.

Dr. Derbolowsky:
Ich danke Ihnen.

Dr. Kieper:
Ich bin seit 17 Jahren Praktiker mit dem Schwergewicht Naturheilverfahren und unterliege natürlich - jetzt in den letzten Jahren nicht mehr so schlimm - aber am Anfang einer enormen Kritik der Universtätsmedizin, weil man mir ständig bescheinigt hat, das ist nicht wissenschaftlich anerkannt. Die Praxistätigkeit steht aber völlig im Widerspruch zu diesen Gedankengängen. Da ist man gezwungen, darüber nachzudenken, was Wissenschaft überhaupt ist. Ich verspreche mir von dem heutigen Tag (zunächst) eine Antwort darauf, was Wissenschaft ist. Und was viel spannender ist - da hat mich der Artikel von Prof. Demling inspiriert: Ist Medizin überhaupt eine Wissenschaft? Dann stellt sich die Frage, haben wir in der Medizin in den letzten Jahren nicht überhaupt mit einer sogenannten falschen Meßlatte gemessen? Denn biologische Systeme sind - man muß es ja fast so definieren - grausam nichtlinear. Und wir haben in den ganzen Jahren - und das ist auch der Vorwurf, den der Praktiker kriegt, so wie ich es mache - linear gemessen. Und da erhoffe ich mir natürlich von den Mathematikern insbesondere, aber auch von den Betriebswirten, eine Antwort, zumal ja, was ganz spannend ist, in allen anderen Bereichen gleiche Gedankengänge vorhanden sind. Wenn Sie an die ,,fraktale Fabrik`` denken und diese Begriffe ...

Dr. Derbolowsky:
Ich würde das jetzt gerne noch so stehen lassen, auch wenn wir die von Ihnen angesprochenen Begriffe nachher sicherlich definieren sollten. Aber lassen Sie uns erst einmal sehen, was Sie alle an Erwartungen und Vorstellungen für sich mitgebracht haben.

Prof. Volkmann:
Ich meine, wir brauchen dreierlei. Es ist schon gesagt worden, wenn Vertreter verschiedener Fakultäten sich an einen Tisch setzen und gemeinsam sprechen über Dinge, die uns betreffen. Wir brauchen also, nachdem sich in den letzten Jahrzehnten das wissenschaftliche Denken sehr stark spezialisiert hat und voneinander fortentwickelt hat und dadurch viele Fortschritte erzielt hat im Detail, dreierlei: Erstens, wir müssen uns verständigen über die Probleme, die alle gemeinsam betreffen. Die sind fachübergreifend, wenn man so will interdisziplinär, und das sind keine rein theoretischen Probleme; es geht letztlich um das Überleben der Meschheit in den kommenden Jahrzehnten ... Probleme, die uns alle betreffen, und zu denen schließlich jedes Fach seinen Beitrag leisten sollte. Zweitens, wir brauchen eine Besinnung auf die Werte, die wir gemeinsam benötigen, denn das hat sich herumgesprochen, rein abstrakt, rein theoretisch, per Computer kann man Wertfragen nicht lösen. Man braucht einen Konsens darüber, welche Werte Menschen, lebende Menschen, unabhängig von ihrer Fachzugehörigkeit natürlich, bejahen und zu verwirklichen suchen. Und drittens, wir brauchen eine Sprache, die wir gemeinsam verstehen. Da gibt es heute interessante semantische Probleme, wenn Leute einen Begriff wie ,,Wissenschaft``, ,,Vernunft`` oder ,,Wirklichkeit`` in den verschiedensten Fächern unterschiedlich deuten oder etwas naiv aus dem Ärmel eine Wortbedeutung schütteln. Wir brauchen eine sorgfältige Besinnung auf die Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie, damit überhaupt Verständigung über Zäune hinweg zwischen den einzelnen Disziplinen möglich ist und die Begriffe in einer gemeinsamen Sprache ausgedrückt werden.

Dr. Derbolowsky:
Vielen Dank. Bitte ...

Dr. Mann:
Ich habe drei Hoffnungen. Ich habe die Hoffnung, daß es heute ein Abenteuer wird. Zweitens habe ich die Hoffnung, daß bei dem vielen, was wir uns zu sagen haben, sich jeder kurz faßt. Und drittens habe ich die Hoffnung, daß etwas so Verrücktes herauskommt, daß wir alle hier geschockt aus dem Raum gehen. Dann wär's toll gewesen!

Dr. Derbolowsky:
Dankeschön! Prof. Staudinger.

Prof. Staudinger:
Ich bin ohne eine bestimmte Hoffnung hier! - Ich bin also, um es klar zu sagen, gekommen, weil Sie mich gebeten hatten und weil ich mich auch ganz gut die Tage freimachen konnte. Ich bin Ihnen zuliebe hier.

Dr. Derbolowsky:
Ich danke Ihnen herzlich.

Prof. Schroeder-Kurth:
Ja, ich bin natürlich gerne gekommen, weil ich einmal mir nicht freigeben und reisen mußte - ich bin ja hier in Heidelberg ansässig, und zum anderen beschäftigt sich notgedrungen jeder, der in der Humangenetik arbeitet mit einer antizipierten Krise in der Humangenetik, in der Medizin, denn die Ergebnisse, die die molekulare Genetik erbringt und die wir als genetischen Berater für den Patienten interpretieren müssen, die stoßen uns geradezu mit der Nase jeden Tag darauf. So bin ich diesen Kreis geraten als jemand, der die naturwissenschaftliche Medizin selbstverständlich vertreten muß als etwas, was heute selbstverständlich ist und was auch weitergetrieben werden muß. Auf der anderen Seite sitze ich mitten in einer Schere zwischen der Interpretation für uns selbst in der Naturwissenschaft und in der Interpretation für den Patienten. Da haben wir ganz erhebliche Probleme, die zur Lösung anstehen. Es ist wieder die Aufklärung, so daß der Patient das versteht und die Schwierigkeiten ...

Prof. Demling:
... aber nicht erschreckt wird ...

Prof. Schroeder-Kurth:
... ja, aber das ist etwas anderes. Aber die Juristen verstehen heute darunter, daß der Patient versteht, was wir meinen. Und das ist nicht gesagt. Die Hinweise, die wir jetzt schon aus den verschiedenen Disziplinen bekommen haben, haben mich fasziniert. Wir haben ja gestern schon eine bißchen angefangen, die Chaostheorie zu diskutieren - wir arbeiten sehr viel mit der Chaostheorie in der Genetik, weil wir lauter Black Boxes haben, von denen wir nicht wissen, was darin passiert. Was dabei rauskommt erstaunt uns manchmal. Ich erhoffe mir eigentlich auch aus meiner Erfahrung von solchen interdisziplinären Arbeitsgruppen, daß wir finden, wir können miteinander arbeiten. Das heißt, daß wir eine Sprache finden müssen, was sehr schwierig sein wird, wenn man wirklich interdisziplinär arbeitet. Es benötigt gewöhnlich etliche Male der Zusammenkünfte, aber es wurde schon angedeutet, daß hieraus möglicherweise eine Arbeitsgruppe wird, und da würde ich mich gerne mit meinen Kenntnissen einbringen.

Dr. Eberl:
Ich könnte mir vorstellen, daß ich als Chaosforscher jetzt auch ein paar Teilaspekte der Medizin kennenlerne, die wir dann vielleicht aufgreifen könnten und unsere Prinzipien, z.B. der Steuerung, einbringen können. Andererseits möchte ich auch betonen, daß ein System gerade dann, wenn es chaotisch ist, empfindlich reagiert auf auf kleine, gezielte Impulse, die unser heutiges Gespräch vielleicht für die Medizin bringt. Auch wenn wir heute den scheinbar starren Strukturen der Medizin gegenüberstehen, brauchen wir deshalb nicht demotiviert sein, und ich hoffe, daß wir heute eine optimistische Stimmung mit auf den Weg bekommen.

Dr. Derbolowsky:
Dankeschön!

Prof. Schott:
Was ich mir von dem heutigen Gespräch erwarte, ist eigentlich auch schon eingetroffen, wie Herr Derbolowsky gesagt hat, allein dadurch daß wir hier sitzen; vor allem, daß man hier vielleicht doch mal angesichts der Probleme, die wir in der Medizin und in der Umwelt haben, Dinge zur Sprache bringen kann, die seit langem schon unterschwellig gären, also schon vielfach bekannt sind an und für sich, aber andererseits von der Orthodoxie eben bisher nicht oder kaum zur Kenntnis genommen werden.

Dr. Derbolowsky:
Vielen Dank.

Prof. Schott:
Herr Mann hat eben von Abenteuer und Schock gesprochen. Ich darf jetzt aber - ich kann es nicht ganz unterdrücken - biographisch etwas einflechten: vor etwa 18 Jahren sind in dieser Klinik zwei unserer Kinder glücklich geboren worden und vielleicht ist das so ein gewisser Ort, wo so etwas geschehen könnte. Ich habe im Grunde zwei Erwartungen: einmal eine Erwartung auf ästhetisch-wissenschaftlicher Ebene, nämlich daß man wirklich einige Begriffe klarer gemeinsam herauskristallisiert, möglicherweise sogar eigene Begriffe prägt, um in einer positiven Art und Weise interdisziplinär arbeiten zu können; aber ich habe zugleich so etwas wie eine wissenschaftspolitische Hoffnung, daß nämlich diese Dinge nicht im Raum stehen bleiben, sondern auch umgemünzt werden in Forschungsprogramme, die relativ konkret dann auch vor Ort umgesetzt werden können.

Prof. Gerhard:
Vielleicht kann ich auch noch kurz sagen, was mich dazu bewogen hat, von dieser Idee gleich begeistert zu sein. Wir haben es ja als Frauenärzte viel mehr als andere Ärzte nicht nur mit einem Patienten zu tun, sondern mit zwei Patienten. Wir sind viel mehr darauf getrimmt, bei allem, was wir tun, nicht nur etwas zu reparieren, wie es ja in der Medizin leider häufig ist, sondern wir müssen viel weiter schon in die Folgen sehen. Und die Folgen, das können weitere Generationen sein ... Und deshalb vermisse ich immer bei den Medizindiskussionen, daß man vom kranken Patienten spricht, und was wir für ihn tun. Ich würde das heute gerne viel weiter sehen. Was können wir prophylaktisch, was können wir präventiv tun, wie können wir den zukünftigen Patientien verhindern bzw. den Menschen in seiner Verantwortung stärken und ihm dabei helfen, gesund zu bleiben? Und da müssen eben diese Sachen, die auch Herr Volkmann ansprach - die Ethik, die Verantwortung, das muß alles berücksichtigt werden. Wir können das jetzt nicht nur medizinisch sehen, sondern - das ist das Gute an dem Interdisziplinären, da muß das Ganze in Richtung Erziehung gehen, und da hätte ich gerne Möglichkeiten andiskutiert, wie man das im großen Rahmen machen kann.

Dr. Derbolowsky:
Ich danke Ihnen. Ihr Äußerungen zeigen deutlich, daß wir ein gemeinsames Ziel mit dem heutigen Treffen verfolgen. Daß wir eine gemeinsame Aufgabe sehen, die es zu bewältigen gilt. Wir haben, glaube ich, damit von den Erwartungen her (aber natürlich nicht inhaltlich) zueinander passende, kongruente Vorstellungen von dem Ablauf des heutigen Vormittags und damit die erste Basis dafür, daß wir tatsächlich auch effizient arbeiten können. Es wäre schön, wenn wir uns dabei im Sinne von Herrn Dr. Mann so kurz wie möglich fassen in unseren Ausführungen, denn sonst haben wir wenig Chancen, tatsächlich miteinander zu sprechen. Vielleicht, daß nicht alle Aspekte eines Themas, das man im Kopf hat, erschöpfend abgehandelt werden, sondern vielleicht nur ein beispielhaftes Spotlight. Und ich denke, wir beginnen unsere Diskussion mit der Frage, ,,Wozu Medizin überhaupt? Welchen Sinn macht Medizin¿`.

Prof. Demling:
Ich habe da mit dem Herrn Reich-Ranicki, den sie wahrscheinlich kennen, zu Abend gegessen, zufällig beim Kongreß, und da sind wir über die Frage in die Diskussion gekommen: Was will die Medizin? Er hat in seinem Festvortrag irgendwie die Schriftsteller mit den Ärzten verglichen und gesagt, der Hauptfeind der Ärzte und auch der Schriftsteller usw. ist der Tod. Da habe ich gesagt: ,,Sie irren sich, der Hauptfeind ist nicht der Tod, sondern der Hauptfeind ist der Schmerz.`` Und das ist eigentlich unsere Aufgabe, den Schmerz zu bekämpfen und den Menschen glücklich zu machen.

Dr. Mann:
Also, da muß ich als Laie was dazu sagen. Ich habe immer gelernt, daß der Schmerz ein Signal ist, daß etwas nicht in Ordnung ist. Das ist so ähnlich wie das rote Licht im Auto: wenn das aufleuchtet, stimmt irgendetwas nicht. Wenn ich den Schmerz wegschaffen will, dann schaffe ich ja das Signal weg, das mir mein Leben rettet.

Prof. Demling:
Nein, Sie sollen nicht das Lämpchen ausstellen, sondern Sie sollen den Schaden reparieren.

Dr. Mann:
Ach ja. Gut.

Prof. Sich:
In dem, was sie jetzt zuletzt sagten, klingt eigentlich an, daß eben der Schmerz nicht das Wichtigste ist, was beseitigt werden muß, sondern der Schaden. Und ich glaube hier zeigt sich deutlich, was die Medizin denn sollte: sie sollte nach Möglichkeit dafür sorgen, daß Dinge, die den Menschen beeinträchtigen, seien es Krankheiten, Verletzungen und dergleichen, behoben werden, soweit das möglich ist; wobei ich auch sagen möchte, daß ich den Körper des Menschen nicht als eine Maschine betrachte, die zum TÜV geht, sondern daß es primär darauf ankommt, daß die personalen Möglichkeiten des Menschen - soweit es möglich ist - erhalten werden und nicht geschädigt werden.

Prof. Gerhard:
Herr Demling, ich muß Ihnen etwas widersprechen. Was Sie da sagen ist zwar sehr wichtig und ich glaube, daß Sie so abgeklärt sind und das auch so sehen, aber die Mehrzahl der Mediziner sieht den Tod doch als Ihren Feind an. Und die Mehrzahl der Mediziner möchte nicht zugestehen, daß sie dem Tod gegenüber hilflos sind und versuchen deshalb, unnötige Verlängerung auch in den aussichtslosen Fällen und sind nicht in der Lage, mit ihren Patienten den Tod als etwas Normales zu diskutieren.

Prof. Demling:
Darf ich ein Wort dazu sagen: Ich habe gesagt ,,Hauptfeind``, und das zeigt sich in dem Augenblick, wo sie zu abzuwägen haben zwischen Schmerz und Tod. Es gilt für die Ärzte, daß sie den Schmerz bekämpfen, selbst auf die Gefahr hin, daß das Leben etwas verkürzt wird, und dadurch ist die größere Bedeutung des Schmerzes deutlich ausgedrückt.

Prof. Sich:
Für mein Interesse muß ich die Frage erweitern, und zwar: Was ist Medizin im lebenslänglichen Kontext, wo Krankheit als Störfaktor erfahren wird, und zwar nicht nur von Individuen (und dort somatisch, psychologisch und sozial), sondern auch von ihrer Familie, ihrer Arbeitswelt, vom Sozialwesen, in das sie gestellt sind. Was bedeutet Medizin in diesem Zusammenhang? Wie trägt die Medizin zur Reduktion von Erkrankung in diesem Kontext bei? Wie erhöht sie die Fähigkeit zum Coping, also des sinnvollen Umgangs mit diesem Störfaktor Krankheit auf allen Ebenen: Individuum, psychologisch, sozial und physisch; dann auch Familie, Arbeitswelt usw. - Das würde umfassend mein Interesse an dem, was der Sinn der Medizin ist, zusammenfassen.

Dr. Derbolowsky:
Und was meinen Sie als ,,Sinn`` konkret?

Prof. Sich:
Die Fähigkeit zum Coping in den vorhandenen Ressourcen und der Heilung zu unterstützen bzw. mit ihren Kenntnissen und Techniken und Medikamenten beizutragen, um Erhöhung oder Verbesserung der Reduktion vom Störfaktor Erkrankung.

Prof. Demling:
Darf ich dazu eins sagen: Ich habe gesagt, das Wichtigste ist die Schmerzbekämpfung, natürlich sinnvollerweise dadurch, daß man den Schaden ausschaltet. Es gibt Schmerzzustände, die man nicht beheben kann - bei chronisch Kranken. Denen muß man den Schmerz nehmen, soweit es möglich ist; was nicht möglich ist, muß man ihnen dann klarmachen, damit sie zurechtzukommen. Ich glaube, Sie wollten das sagen - das hat der Viktor Frankl auch gesagt: Man muß der ganzen Geschichte einen Sinn geben. Die Christen tun das, indem sie dem Leiden einen ethischen Wert beiordnen und sagen, ,,das ist eine Läuterung der Seele``, meinetwegen. Das ist ein Weg, um mit dem Schmerz fertigzuwerden. Es gibt verschiedene Arten: Man kann ihn abstellen - kausal oder nicht kausal - oder man kann versuchen, damit zurechtzukommen.

Prof. Staudinger:
Ich glaube, hier geht schon daraus hervor, daß die Medizin nicht so isoliert betrachtet werden darf. Wir haben ja selbst bei Krankheiten - oder bei den Erscheinungen, die wir als Krankheiten bezeichnen - oft mehrere Komponenten dabei. Einmal eine psychische Komponente, außerdem Symptome, die wir am Körper feststellen und oft auch noch eine soziale Komponente, indem der Betreffende in der sozialen Umwelt Schwierigkeiten hat. Also ich glaube, das seien alles wichtige Dinge. Wir reden zwar immer von der psychosomatischen Einheit des Menschen, ich glaube aber, daß die Medizin die Konsequenzen daraus noch nicht voll gezogen hat. Das gilt sowohl für die psychische Komponente wie für die soziale Komponente des jeweiligen Patienten.

Prof. Schroeder-Kurth:
Ich komme als Humangenetikerin darin gar nicht vor, stelle ich fest. Entweder (das ist ja auch viel diskutiert worden) gehören die Ansätze aus der Humangenetik gar nicht in den Bereich der Medizin - und ich denke, wir gehören da hinein; aber wir haben etwas mit Prävention zu tun, wir haben etwas mit Familientherapie zu tun, wir haben etwas mit Prädiktion, mit Voraussage, zu tun; und wir haben etwas mit Coping zu tun. Mit Heilung werden wir in Zukunft etwas zu tun haben, wenn die Gentherapie mehr und mehr entwickelt wird, aber vorläufig sehen wir voraus, daß wir viel größere Probleme haben, weil wir mehr Diagnosen machen können als Therapie anbieten. Und weil das Thema Prädiktion uns einfach überrollen wird mit all den Testverfahren, die entwickelt werden für die ursächlichen Faktoren, die man inzwischen herausgefunden hat. Das ist also etwas, was wir voraussehen und mit dem wir - wenn es so weiterläuft in unserem Gesundheitssystem - nicht fertigwerden.

Prof. Pietschmann:
Ich habe ein bißchen ein Unbehagen und möchte das gerne artikulieren. Ich fürchte - und das ist jetzt bitte nicht als Kritik gemeint, sondern als Versuch, etwas deutlich zu machen -, daß das Gespräch, wie es sich jetzt hier abspielt, genau die Problematik der Medizin widerspiegelt. Ich meine, die Medizin steht vor einem großen Widerspruch, den sie nicht ernst nehmen kann (und das ist, wie gesagt, keine Kritik an diesem Kreis, sondern der Zustand), und das ist der Widerspruch zwischend dem Allgemeinen und dem Individuum. Hier wurde gesprochen von dem Schmerz, dem Tod, dem Leid. Das gibt es ja alles nicht. Es gibt nur einen Menschen, der Schmerz hat und einen Menschen, der vor dem Todesproblem steht, und es gibt einen Menschen, der leidet. Das ist als echter Widerspruch im Sinne einer Aporie zu fassen, obwohl wir hier beide Seiten berücksichtigen müssen, können wir das nicht, weil die Naturwissenschaft ihre Erfolge aufgrund der Tatsache hat, daß sie vom Individuellen absehen kann. Carl Friedrich von Weizsäcker sagt das immer so schön: Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben das Erfolgsrezept der Naturwissenschaft ist. - Deswegen können wir das noch nicht und kommen dann natürlich in eine Problematik, von der ich glaube, daß wir gar keinen Erfolg dabei haben, wenn man die weiterdiskutiert. Das eigentliche Problem ist meines Erachtens schon das, das zuerst angesprochen wurde, daß der Patient informiert werden muß - und da macht sich die Aporie sofort wieder deutlich. Man muß sagen: Respekt vor der einzelnen Person ... Ich würde sagen, Schmerz allgemein ist nicht zu bekämpfen. Wenn jemand sagt, ich habe einen Schmerz, der der Sinn meines Lebens ist, den möchte ich gar nicht wegbringen. Dann wäre es ja furchtbar, wenn die Medizin das verlangen würde. Dann hätten wir heute keine neun Symphonien von Beethoven; dann hätten eben die Ärzte gesagt, er muß anders leben, dann hätte er diese Seelenschmerzen nicht gehabt und ähnliches. Das heißt, hier ist einerseits das Individuum zu respektieren, andererseits aber nicht. Denn wenn jemand mit einer Infektionskranheit herumlaufen möchte, muß man ihm das mit Gewalt verbieten. Und mit dieser Aporie, glaube ich, können wir nicht umgehen, und das scheint mir eines der zentralen Probleme der modernen Medizin zu sein.

Dr. Kieper:
Die Eingangsfrage war ja der Sinn der Medizin. Ich sehe den Sinn der Medizin darin, (abgesehen von der äußerst wichtigen Prävention, die ist ja nun ausgiebig besprochen worden) daß wir uns rückbesinnen müssen auf eine personotrope Medizin. Das ist, glaube ich, ein Thema, das wir heute nicht ausgiebig genug besprechen können. Es kann ja nicht angehen, daß - um es konkret zu sagen - jeder Rheumapatient mit ein und derselben chemischen Maßnahme behandelt wird. Da kommen wir auf unser eigentliches Thema, daß also linear behandelt wird. Jeder Rheumapatient muß im Grunde genommen eine völlig andere personotrope Therapie bekommen. Das ist der Sinn der Medizin, und wenn wir so handeln, dann ist es auch so, daß wir (und das ist ein weiterer wichtiger Aspekt) die sogenannten Nebenwirkungen, die ja eine pauschale Behandlung in sich trägt, verhüten und damit - das ist ja das große Problem unserer Zeit - daß die Nebenwirkungen neue Erkrankungen entstehen lassen, die wir zum Teil gar nicht kennen. Und das wünsche ich mir heute, daß wir dort eine Antwort darauf finden, einen anderen Weg zu gehen in der Medizin.

Prof. Volkmann:
Generelle Feststellung: Mir scheint, hier liegt ein Kernproblem der Ethik. Wenn man nur dem Individuum helfen will und die langfristigen Folgen für die Gesellschaft außer acht läßt, mag das einfach sein. Wenn man nur an die Gesellschaft denkt und die Schäden für das Individuum außer acht läßt, mag das ebenfalls einfach sein. - Wir kennen Ideologien, die das versucht haben. Das interessante und wichtige Problem der Ethik besteht heute ganz bestimmt darin, daß wir kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-Auch vor uns haben. Wir müssen die Spannung aushalten zwischen der Verpflichtung, dem einzelnen Menschen zu helfen und der Verpflichtung, die Menschheit als Ganzes zu erhalten. Da kann man gar nicht abstrakt und langfristig genug denken.

Prof. Demling:
Die beiden Dinge verhalten sich, um mit den Physikern zu sprechen, komplementär, so wie die Wellennatur und die korpuskuläre Natur des Elektrons. Aber was Sie angesprochen haben, ist natürlich ganz wichtig, und was bei Ihnen angeklungen ist, es wird in den sogenannten Studien, bei denen es mir ganz kalt über den Rücken läuft, unter der Voraussetzung gemacht, daß tausend Menschen völlig gleich sind und wenn ein Präparat bei tausend Menschen, sagen wir mal nur bei 200 wirkt und bei 800 nicht, dann heißt es, dies ist ein Placebo-Effekt. Das stimmt gar nicht. Wir sind individuell mit Enzymen usw. ganz unterschiedlich ausgerüstet, und es kann sein, daß bei den 200 der Effekt eben hundertprozentig ist. Über diese Geschichte stolpert die Phytotherapie, über diese Geschichte stolpert zum Teil auch die Homöopathie, die ich hier nicht voll anerkennen möchte. Aber das ist es eben, daß man ständig nur diese Studien macht. Ich habe ein Bild dabei, das ich leider nicht zeigen kann: da ist eine Karikatur, da tröstet ein Liebhaber post coitum seine Geliebte, die dasitzt, ganz verzweifelt, und sagt zu ihr, Beischlaf und Schwangerschaft seien nur ganz schwach signifikant miteinander verknüpft und sie soll sich keine Sorgen machen. Ich sehe das genauso. Das Individuum steht im Vordergrund und auch in der Medizin muß es im Vordergrund stehen. Das ist ganz richtig.

Prof. Pietschmann:
Aber im Sinne dieser - so wie Sie gesagt haben - dialektischen Spannung.

Prof. Demling:
Ja, beides, komplementär.

Prof. Staudinger:
Eine Schwierigkeit, die gerade heute auftaucht, ist natürlich die, daß innerhalb der Gesellschaft keine Einmütigkeit mehr besteht über den Wert des personalen menschlichen Lebens. Und dadurch entstehen gewisse Probleme, die es früher vielleicht nicht so gegeben hat. Wir stehen ja manchmal vor dieser Frage, gerade bei den Indikationsabtreibungen zumindest etwa wird am deutlichsten, das ist nur ein Symptom davon. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich das jetzt nicht in den Mittelpunkt stellen möchte als Symptom. Wir stehen grundsätzlich vor der Frage, sollen wir gesundheitliche Defizite beseitigen, indem wir den Menschen beseitigen, der sie hat. Das ist eine Frage, die sich auch zum Teil stellt bei der Frage der Euthanasie und dergleichen mehr. Also ist der Mensch in sich ein solcher Wert, daß er nicht beseitigt werden darf? - Oder ist es uns gestattet, menschliche Defizite dadurch zu beseitigen, daß wir den Menschen, der sie hat, beseitigen? Das steht also hinter der Frage der Abtreibung, stellt sich aber auch bei der Frage der Euthanasie und ähnlichen Fragen. Ich möchte ausdrücklich auf das Übergreifende dieser Problematik hinweisen.

Dr. Derbolowsky:
Ich bin spontan bei der Nennung unseres Themas von einem Lehrer darauf angesprochen worden, daß sich ja jetzt mit dem gentechnologischen Fortschritten die Möglichkeit eröffnet, daß wir den Patienten so gestalten können, daß er einerseits den Mediziner ernährt, und andererseits trotzdem fröhlich weiterleben kann.

Prof. Schroeder-Kurth:
Das ist paradox, was Sie sagen. Der Mediziner hat immer noch einen paradoxen Beruf. Wir heilen unsere Patienten und hoffen, daß sie nie wieder kommen müssen. Und Sie haben eben umgekehrt argumentiert und haben gesagt: machen wir unsere Patienten so krank, daß wir im Betrieb bleiben. Das widerspricht natürlich dem, was Sie, Herr Staudinger, sagten, die Gesellschaft entscheidet sich ja nicht gegen die Kranken, sondern die individuellen Mütter entscheiden sich dagegen, daß sie das Leben m i t diesen Kindern sich nicht zumuten müssen. Ich habe den Text vom Bundesverfassungsgericht nicht im Kopf. Aber darum geht es. - Es geht nicht darum, daß eine Gesellschaft wie unsere sich entscheidet, wir vernichten die Kranken. Ich wollte es nur noch einmal ganz deutlich sagen. Ich stecke mitten in der Pränataldiagnostik, ich kenne diese Probleme und sie kommen immer wieder in dieser Weise auf den Tisch, mit einer Argumentationsumkehr gegenüber der sozialen Indikation. Da wird immer zugunsten der Mutter argumentiert. Ich will das hier nur ganz klar sagen, daß wir daran keine Zweifel haben.

Dr. Mann:
Habe ich richtig verstanden, daß die Medizin ihren Sinn aus dem Auge verloren hat? Dann wäre die Medizin zumindest in guter Gesellschaft. Aber das ist eigentlich das, was ich jetzt verstehe aus den Fachbeiträgen.

Prof. Demling:
Ich glaube, was Sie angesprochen haben, war die Frage nach der Unverwechselbarkeit der Persönlichkeit. Das ist die eine große Frage. Und die andere große Frage, die sich stellt und die ich erwähnen möchte, ist die Frage nach dem persönlichen Gott.

Prof. Schroeder-Kurth:
Herr Volkmann hat in seiner Ausarbeitung darauf hingewiesen, daß er auch glaubt, in Zukunft müsse der Arzt mehr ein ,,Lebenshelfer`` werden und ein ,,Lebenssinngeber``. Das haben wir häufig in der Diskussion auch um den sogenannten ,,Genetischen Berater``, der ja mit Coping-Strategien zu tun hat, wenn wir Patienten sagen: das ist nun mal so, sie haben diesen genetischen Defekt und da kann man gar nichts machen. Dann gibt es das Problem: wie kann ich diesem Patienten weiterhelfen? Ich bin ja nicht nur Informant und sage das Schlimmste für jemanden: daß er eine Krankheit haben wird, zukünftig, mit 50 Jahren, gegen die man gar nichts machen kann. Aber es gibt auch andere, Philosophen z.B., - ich will den Herrn Sass erwähnen, der uns dieses Konzept unterbreitet hat -, daß wir medizinischen Genetiker langsam zu ,,Lebenshelfern`` werden. Das heißt, wir sollten mit der genetischen Beratung vor und nach einer Diagnostik nicht aufhören, sondern wir sollen uns bereit finden, auf Dauer diesen Patienten - wie früher ein Rabbi - Lebenshilfe zu geben. Ich muß sagen, diese Art von Medizin kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir einen Kreis von Patienten um uns sammeln, der dauernd von uns abhängig bleibt, dem wir dauernd zur Verfügung stehen und Lebenssinn spenden. Das ist das Schwierigste, das man von einem Arzt, vielleicht von einem Theologen, verlangen könnte. Ich glaube also, daß das eine übertriebene Hoffnung ist an die Medizin.

Prof. Staudinger:
Ja, aber das liegt natürlich zum Teil daran, daß die interpersonalen Beziehungen innerhalb der Gesamtgesellschaft immer brüchiger und ungewisser werden und immer mehr nachlassen, und da bleibt das dann auf dem Arzt hängen, was eigentlich von Angehörigen und anderen gemacht werden müßte. Da sind im Augenblick der Theologe und der Arzt die beiden Profis, die zuständig sind für das, was eigentlich in dem personalen Gefüge der Gesellschaft verankert sein müßte, überall.

Prof. Volkmann:
Ich hatte das etwas allgemeiner gemeint: Es bezieht sich in meiner Sicht ja nicht nur auf den Arzt. Das kann dem Universitätsprofessor, und wenn er Mathematiker ist, ganz genauso gehen, daß er im Gespräch mit Leuten, die zu ihm kommen, sich auf einmal in die Lage versetzt sieht, auf Lebensfragen einzugehen, ein bißchen mehr zu tun als in seinem eigenen Tarifvertrag steht. Der heutige Mensch ist so stark vereinsamt, daß er in entscheidenden Lebensfragen oft überhaupt keinen Gesprächspartner hat und dann einen sucht. Ältere Damen suchen dann z.B. den Fußpfleger auf. Nun ist aber die Not, die dahinter steckt so groß, daß sie medizinisch und pädagogisch und sonstwie relevant wird und daher mitgesehen werden muß. Wenn der Patient sich angewöhnt, alle vier Wochen krank zu werden, weiß doch der Arzt allmählich, daß dahinter ein Lebensproblem steckt. Und er wäre doch schlecht beraten, wenn er das nur mit Medikamenten und nicht mit ein wenig Lebensberatung beantworten würde. Dasselbe gilt für den Professor, für den Verwaltungsbeamten und den Richter.

Prof. Demling:
Es ist die Frage gerade aufgetaucht ... Die alten Damen suchen den Fußpfleger auf. Was machen die alten Herrn? Ich weiß es nicht. - Eines aber wollte ich Ihnen sagen: Selbst Mathematiker sind nicht gefeit in dieser Situation. Ich habe in Würzburg an der Poliklinik gearbeitet, vor vielen Jahren (da war das Mathematische Institut noch dort), und da gab es einen Professor, bei dem fiel eine Studentin durch. Der hat sie dann zum Trost auf den Schoß genommen - und er mußte dann auch seinen Hut nehmen.

Prof. Volkmann:
Ja, das war die falsche Form von Lebensberatung!

Dr. Zycha:
Darf ich jetzt vielleicht ein bißchen mehr vom Konkreten oder vom Detaillierten aufs Allgemeinere gehen. Ich bin ja nicht Mediziner und ich versuche, die Probleme mehr philosophisch und auch irgendwie naturwissenschaftlich - oder naturphilosophisch kann man vielleicht sagen - anzugehen. Da sehe ich dann natürlich die Probleme grundsätzlich auf einer etwas anderen Ebene, nämlich auf einer wesentlich tieferen. Wenn ich jetzt zunächst einmal sagen darf, was ist die Aufgabe der Medizin, dann möchte ich das ganz einfach nur in die Worte kleiden, es ist die Aufgabe zu heilen, kranken Menschen, die irgendwie aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wieder ins Gleichgewicht zurückzuführen, was man eben kybernetisch als Homöostase bezeichen kann. Ja, das ist die Aufgabe. Daß das jetzt immer mehr Probleme aufwirft, da sehe ich eigentlich aus meiner Sicht die Gründe viel, viel tiefer in der Entwicklung, die über viele Jahrhunderte gegangen ist. Es fragt sich natürlich, ob ich jetzt an dieser Stelle hier schon so darauf eingehen soll. Ich weiß nicht... damit ich jetzt nicht ganz aus dem Rahmen falle, denn ich lenke ja jetzt damit irgendwie das Gespräch mehr auf das Allgemeine, auf die Basisprobleme, die dem Ganzen zugrunde liegen, wo die Medizin mit der Naturwissenschaft eben ganz eng zusammenkommt, insofern nämlich, als die Medizin sich ja eigentlich immer ganz im Sinne der Naturwissenschaft entwickelt hat (die Physik, das große Vorbild). Ich sehe also die Probleme auf Jahrhunderte zurück. Wenn ich es jetzt also konkret aussprechen darf. Es kommt eben vielleicht gerade der erste Schock, Herr Mann. Es ist eigentlich in vielen Kreisen kein Schock mehr und es wird auch schon so darüber gesprochen: man spricht als Alternative zur Materie, zum Materialismus von energetischen Problemen usw. - Aber dieses Wort ,,Energie`` oder ,,energetisch`` hängt meiner Meinung nach immer noch sehr mit dem Materiellen zusammen. Das ist sozusagen nur eine Aufweichung, das ist nicht Fleisch, nicht Fisch, oder wie man das jetzt ausdrücken will ... Ich meine als Alternative, um es jetzt konkret zu sagen, man müßte auf das zurückkommen, was eigentlich seit Jahrhunderten unter einem Tabu liegt - sie wissen das vielleicht schon aus meinen Statements: Irgendwie müssen wir auf das Geistige zurückkommen, das in der Naturwissenschaft verlorengegangen ist und das wir in der Medizin offenbar auch verloren haben. Und wenn sie jetzt sagen, wir müssen den ganzen Menschen heilen, so stimmt das schon als erster Schritt, wenn man von den Partialsymptomen abkommt, daß man nur irgendein krankes Herz oder eine kranke Lunge behandelt, den ganzen Menschen. Wir müssen noch viel mehr: Wir müssen den Menschen in der Gesellschaft sehen, wir müssen alles zusammen als Gesamtheit sehen, als Ganzheit. Und das können wir nur, wenn wir auf die geistigen Bande zurückkommen. Die sind nämlich durch das Teilen verlorengegangen, wie Goethe schon so schön gesagt hat. Auf das müssen wir hinkommen. Und das ist jetzt, wie ich es ausdrücken möchte, nicht mehr eine ,,rein intuitive`` Angelegenheit, so wie es bisher die Mystiker ausgedrückt haben oder auch viele Esoteriker (oder wie man die alle nennt heute), sondern man kann das heutzutage ganz rational klarmachen, man kann beweisen sozusagen, daß dieser geistige Urgrund dasein muß... Man kann es beweisen, aber natürlich nur den Leuten, die hinschauen. Es ist das Problem wie seinerzeit bei Galilei mit seinem Fernrohr und den Jupitermonden. Er hat es beweisen können, aber wenn die Leute nicht bereit sind, durch das Fernrohr zu schauen, dann kann er eben nichts beweisen. Wenn die Leute nicht bereit sind, rationale Beweise anzunehmen, dann kann man es eben auch nicht beweisen - aber das ist trivial. Auf das möchte ich irgendwie hinaus.

Prof. Staudinger:
Ich glaube, man muß hier sehen, daß hier eine Bewegung eingesetzt hat, die in eine Schere führt, die wir im Augenblick schlecht schließen können. Sie haben auf der einen Seite in der Medizin die Notwendigkeit der Spezialisierung. Man wird also nicht verlangen können, daß jeder Hausarzt ein Herz transplantiert oder so etwas. Wir haben hier die Notwendigkeit einer Spezialisierung, die ungeheuer weit vorangeht für komplizierte Fälle. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch die Notwendigkeit, den Menschen als Ganzen und den Arzt als Ganzen zu nehmen. Ich glaube hier ist ein Problem, für das ich auch keine Patentlösung sehe. Man probiert das ja, indem man also z.B. den Hausarzt noch als den ansieht, zu dem die anderen gewisse Berichte schicken, wenn etwas Spezielles gewesen ist und dergleichen mehr. Aber ich glaube, das ist noch nicht die Lösung für dieses Problem. Also ich glaube hier haben wir auf der einen Seite diese notwendige Spezialisierung (ich möchte ausdrücklich sagen, wir können auf die Spezialisierung nicht verzichten innerhalb der Medizin), und auf der anderen Seite haben wir aber auch die völlig berechtigte Forderung, daß der Arzt als Mensch dem Menschen gegenübersteht. Und das ist im Augenblick noch nicht gelöst.

Dr. Derbolowsky:
... also stehen sollte.

Prof. Schroeder-Kurth:
Ich würde gerne einwerfen, daß es gut ist, daß diese Schere jetzt ins Gespräch gekommen ist, denn man sollte sich dabei vergegenwärtigen, wieviele Menschen von den Seiten der Schere betroffen sind. Vielleicht führt das die Diskussion weiter. Für mein persönliches Empfinden wird der Herzpatient und die Herztransplantation so in den Vordergrund gestellt - vielleicht aus dem Interesse, das wir in der Medizin an der Behandlung und Möglichkeiten haben, während die wirklich große Last von Krankheitsleiden dabei aus der Diskussion rausbleibt. Wenn beides wieder gleichwertig in die Diskussion kommt, kommen wir vielleicht ein Stückchen weiter.

Dr. Zycha:
Darf ich vielleicht nur kurz jetzt auf die Sache Arzt und Patient... Ich stoße mich etwas daran, wenn man von Gegenüberstellen spricht. Ich glaube, unsere Aufgabe ist mehr eine höhere Gemeinschaft zu bilden, daß Arzt und Patient eine Einheit, eine höhere Einheit bilden müssen, so wie schließlich alle Menschen eine höhere Einheit bilden. Ich sehe es einfach als notwendig an, daß man nicht so sehr das Gegenüber betont, sondern das Miteinander.

Prof. Demling:
Ich habe vorher die Juristen angesprochen und da hat es geheißen, über die wollen wir heute nicht reden. Das finde ich aber außerordentlich wichtig, daß wir über die reden, weil die reinreden bei uns in die Medizin. Sie sagen, das wäre nicht gut, daß die einander gegenüberstehen. Es gibt einen Juristen, der heißt Franzki, ist Präsident gewesen am Oberlandesgericht in Celle, und der hat die schöne Wendung gefunden von der ,,Waffengleichheit zwischen Arzt und Patient``. So weit sind wir schon!

Dr. Derbolowsky:
Das ist ja gerade die Frage des Gegenüberstehens in Feindschaft im Sinne von Ünd wer bleibt auf der Strecke?öder das Gegenüberstehen in Kooperation im Sinne von ,,Was wächst da Neues, Gemeinsames herauf¿`.

Prof. Sich:
Wenn ich kurz noch dazu sagen kann... Ich denke, daß dieses Verhältnis Arzt-Patient, die eine höhere Gemeinschaft bilden, in den Kontext, in dem beide stehen, hineingehört. Der Kontext muß mit berücksichtigt werden. Beide stehen in einer Gesellschaft, die sie erst zu der Interaktion oder zu der Beziehung werden lassen, die sie sind.

Prof. Pietschmann:
Ich stimme dem sehr zu, was der Herr Zycha gesagt hat. Ich glaube nur nicht, daß es ein sehr großer Sprung war, denn ich glaube, das was Herr Volkmann und auch ich versucht haben zu sagen, war ja durchaus mit anderen Worten ohnehin dasselbe...

Dr. Zycha:
Es geht schon in die Richtung.

Prof. Pietschmann:
Ich meine, daß es, schon auch Wert ist zu überlegen, was man in einer solchen Situation eigentlich zu tun hätte. Denn es ist ja unbestritten, daß also hier diese Schere besteht usw.. Und da möchte ich zwei Sachen sagen: Erstens stimme ich Ihnen auch zu, daß Sie Galilei hereingebracht haben. Ich halte unsere Zeit für durchaus vergleichbar mit der damaligen Zeit, nur begonnen hat ja die Neuzeit nicht mit der Vollendung der Naturwissenschaft knapp vor 1500, sondern es hat eben 150 Jahre gedauert, bis das Neue dann da war. Das heißt, wir müssen uns klar sein, daß wir nicht mit einer derartigen Veranstaltung die Welt ändern werden, daß es wahrscheinlich mehrere Generationen braucht, bis es so weit ist - aber wir müssen den ersten Schritt machen. Und was ist das? Wenn sie sich das heutige Medizinstudium anschauen, dann ist das ja im Sinne dieser Schere ausschließlich auf die eine Seite ausgerichtet. Die erste Selektion ist Physik. Als Physiker, könnte man sagen, müßte ich das begrüßen. - Ich tu' s nicht, weil ich das für absurd halte, daß sozusagen das erste Auswahlprinzip in der Medizin die Physik ist, bevor man überhaupt schaut, ob die Menschen geeignet sind, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, ob das nicht vielleicht Kontaktgestörte sind; die sind nämlich in der Physik besonders gut! - Das heißt, daß hier in einem Medizinhörsaal eine solche Diskussion stattfindet, das sehe ich schon - nicht als ersten Schritt, sondern als erstes ,,Schritterl`` sozusagen. Und das scheint mir ein ganz wesentlicher Punkt, daß man eben auch (etwa, was in der Wirtschaft - Herr Mann kann das sicher bestätigen - heute schon viel weiter fortgeschritten ist) schaut, daß jemand, der an einer entscheidenden Position sitzt, auch in der Lage ist, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, in irgendeiner Form kommunikationsfähig zu sein. Das kann man ja üben. Das kann man zwar nicht lernen aus Büchern, aber man kann es üben. Das fehlt bei uns in der Medizinausbildung, wie ich meine, vollständig.

Dr. Derbolowsky:
Ich glaube, man kann es auch lernen ...

Prof. Pietschmann:
Nicht aus Büchern!

Dr. Derbolowsky:
Einverstanden, man kann es lernen, aber es nützt nichts, wenn man es dann nicht übt. Damit haben Sie ein Stichwort für Herrn Dr. Mann geliefert.

Dr. Mann:
Vielleicht gibt es für das Verhältnis Arzt-Patient ein Denkmodell aus der Wirtschaft: Wenn man sich einfach mal vorstellt, der Arzt ist Führer, Führender, Führungskraft. Denn der Führende ist der, der anderen Menschen einen Weg zeigt. Und in diesem Sinne ist der Pädagoge, der Pfarrer, der Arzt, der Lehrer, der Manager oder der Leiter von einem Verein im Grunde Führer. Nur, unser Problem heute ist, daß wir in einer Führungskrise sind und sich diese Führungskrise auch beim Arzt widerspiegelt, denn der Führer ist der, der Orientierung gibt und Sinn. Und wie kann jemand Sinn geben, der den Sinn seines eigenen Tuns verloren hat. Da ist doch die Grenze.

Dr. Derbolowsky:
Führen im Sinne auch von Vorbild?

Dr. Mann:
Vorbild, Vorangehen, zeigen, wie es geht. Sie haben doch viele Maschinen, da würde kein Mediziner selber reingehen; da gehen doch nur die Patienten rein.

Dr. Zycha:
Ich würde sagen, das stimmt gewiß, daß der Arzt der Führer sein soll gegenüber dem Patienten, aber ich glaube doch, das darf nicht zu sehr polarisiert sein in der Weise etwa, daß ich sage, was dir fehlt, was mit dir zu machen ist - und du hast dich leiten zu lassen. Ganz so darf es nicht sein, aber so haben Sie es auch nicht gemeint.

Dr. Mann:
Eine kurze Bemerkung: Das ist eines der wichtigen Symptome der Führungskrise heute, die wir überall haben, daß zwischen Führenden und Geführten ein Machtspiel stattfindet. Auf der einen Seite ist der Mächtige, auf der anderen Seite der Unterdrückte oder noch viel schlimmer, der, der nicht mit sich alleine zurechtkommt, dem man entweder durch mehr Wissen oder mehr Macht sagen muß, was er tun soll, oder dem man noch filigraner und fieser durch ein seichtes Helfen-Wollen seine Fähigkeit abspricht, sich selber helfen zu können. Da ist ja gerade der Punkt der Führungskrise und ich glaube, das ist auch der Punkt, wo ärztliches Verhalten kritisch wird.

Dr. Zycha:
Ich habe das nur gesagt, weil das oft so verstanden wird. Ich weiß ja aus Ihren Statements, daß Sie es nicht so meinen.

Dr. Mann:
Die Illusion ist, daß der Arzt Verantwortung hätte für den Patienten oder daß der Manager Verantwortung hätte für seine Geführten, für seine Mitarbeiter. Das ist eine Illusion, Trugschluß, falsches Verständnis von Veranwortung.

Dr. Derbolowsky:
Wofür hat er Verantwortung?

Dr. Mann:
Für sich, für sein Tun, für seine Handlung. Wenn sie da in Ordnung ist.

Dr. Derbolowsky:
Also, er hat Verantwortung für sein Tun, aber nicht für die Folgen seines Tuns?

Prof. Pietschmann:
Für die Folgen seines Tuns schon - nur nicht für den Patienten. Er darf sozusagen dem Patienten die Verantwortung nicht abnehmen.

Dr. Derbolowsky:
Ich habe die Frage so gestellt, weil ich nicht sicher bin, ob wir tatsächlich Verantwortung haben für unsere Handlungen. Die Folgen - und da würde dann z.B. das Nichtlineare, das Chaos hineinkommen - können wir nur bedingt überblicken. Wir müssen zwar die Zeche vielleicht zahlen, wenn wir so und so handeln. Aber wir versichern uns ja auch deswegen bei vielen Dingen. Nur für das Handeln die Verantwortung ...

Prof. Pietschmann:
Ich möchte gerne eine Unterscheidung hier erwähnen, die für mich ganz, ganz wichtig ist, nämlich die Unterscheidung zwischen Verantwortung und Sorgfaltspflicht. Dort, wo die Folgen abschätzbar sind (ob wir es können oder nicht ist eine andere Frage) haben wir überhaupt niemals Verantwortung, sondern immer nur Sorgfaltspflicht. Dort müssen wir nämlich schauen, daß wir das Richtige machen, weil man zwischen richtig und falsch ja unterscheiden kann. Verantwortung haben wir erst bei Entscheidungen, wo es grundsätzlich unmöglich ist, die Folgen abzuschätzen, wo wir eben die Entscheidung trotzdem fällen müssen, und dann die Verantwortung übernehmen müssen, uns bewußt sein der Tatsache, daß es im Bereich der Freiheit eben Entscheidungen gibt, deren Folgen nicht im Sinne einer allgemeinen Theorie abschätzbar sind. Natürlich werden wir selber versuchen, uns die Konsequenzen abzuschätzen. In jeder Partnerschaft ist das doch z.B. ganz klar. Da gibt es kein Lehrbuch, was muß ich jetzt in dieser Situation machen, damit das gut geht, sondern da muß ich eben die Verantwortung übernehmen.

Prof. Staudinger:
Die Folgen sind ja nun nicht so, daß hier gewissermaßen eine ärztliche Handlung ist, und dann kommen die Folgen vollkommen unabhängig davon hinterher, sondern ich glaube, hier wäre schon wichtig, daß wir einschalten, daß der Arzt nicht für alle Folgen verantwortlich sein kann, weil die Folgen auch von dem Patienten selber wesentlich mit abhängen. Das ist also klar. Aber ich glaube, das eine wird vielleicht zu wenig gesehen, daß durch den nachbehandelnden Dialog des Arztes diese Folgen gewissermaßen durch diesen Dialog beeinflußt werden können (ich will es mal vorsichtig ausdrücken), daß also die Folgen wahrscheinlich in vielen Fällen anders sind, je nach dem, wie instensiv der Arzt in einem dialogischen Verhältnis zu einem Patienten für eine gewisse Zeit bleibt. Man kann natürlich nicht - wie Sie mit Recht sagen - eine lebenslange Betreuung aller Patienten von den Ärzten verlangen.

Dr. Derbolowsky:
Und das wäre lebenslange Betreuung im Sinne von: Ich bleibe immer der Vater meiner Patienten?

Prof. Schroeder-Kurth:
Mutter!

Dr. Derbolowsky:
Oder beides.

Prof. Demling:
Weil angesprochen worden ist Sorgfaltspflicht und Verantwortung. Da kommen wir wieder auf diese Nichtlinearität und auf das Chaos zurück. Die Nichtlinearität ist ja eine Eigenschaft des Chaos. Winzigste Ursachen können riesige Auswirkungen haben, dieser Schmetterlingseffekt: Schmetterling in Brasilien - Tornado in Texas. Deswegen kann der Arzt für die Konsequenzen seiner Handlungen eigentlich nicht vollständig verantwortlich gemacht werden, weil er es gar nicht überblicken kann. Und das ist eine Konstruktion, die von den Juristen hartnäckig aufrechterhalten wird, um den Doktor irgendwie zu disziplinieren. Man darf nicht vergessen: Früher hat es immer geheißen salus aegroti suprema lex; heute heißt es voluntas aegroti ist das Entscheidende. Es hat sich gewandelt. Heutzutage übernimmt der Arzt nicht mehr die Fürsorgepflicht in dem Sinn, sondern er muß sich nach dem richten, was der Patient will - jedenfalls teilweise. Das ist ein neuer Aspekt.

Prof. Schroeder-Kurth:
Ein Gedanke, den ich hier einwerfen möchte in bezug auf Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten der Arzt nicht nur gegenüber Individuen hat, sondern gegenüber Entwicklungen im medizinischen Bereich: Gerade die Situation in der genetischen Beratung zeigt, daß Innovationen im medizinischen Bereich, neue Möglichkeiten, neue Technologien zu Problemen in der Beratung oder überhaupt zu Entscheidungen führen, die so tief in das menschliche Leben eingreifen, daß sie nicht bewältigt werden können, daß hier also in diesem Bereich von Notwendigkeit für Lebensbetreuung geredet wird. Ich möchte also in bezug auf Sorgfaltspflicht und Verantwortung die Frage nach der sozialen Verträglichkeit von Innovationen und Technologie-Folgenabschätzung mit einbeziehen.

Prof. Schott:
Wir diskutieren hier zwar über sehr ehrenwerte ethische Grundprobleme, möchte ich sagen, insbesondere das Arzt-Patient-Verhältnis - das diskutieren wir schon seit 10 oder 20 Jahren. Aber ich vermisse bislang immer noch ein Stück weit Analyse des Zustandes, in dem wir uns jetzt befinden. Der Arzt ist heute ja abhängig von seinen Krediten, die er zu zahlen hat. Er ist abhängig von den Vorschriften, die ihm die und die machen, und dann ist er natürlich auch noch in einer bestimmten Weise ausgebildet. In der Regel macht er noch ein Privatstudium nebenher in Naturheilkunde und was weiß ich. Auf der einen Seite müssen wir also sozusagen die Situtation, gerade auch des jungen Arztes heute ein bißchen genauer in den Blick nehmen. Heute als Universitätsprofessoren stehen wir vor einer grauen Masse. Wir wissen, von denen werden bestenfalls 30 Prozent Ärzte. Woher wollen die überhaupt die Motivation nehmen, in diesem positiven Sinne zum Führenden zu werden. Ich sehe im Moment Flaute, aber auf ganzer Linie. Wir sind an der Universität auf einem Tiefpunkt angelangt, der ist unbeschreiblich. Es ist zwar noch kaschiert, aber das ist ganz ähnlich wie in der Wirtschaft: es floriert alles noch, aber wir sind kurz (wie die Wirtschaft) vor dem Zusammenbruch - um das mal ganz deutlich zu sagen. Dann die Seite des Patienten: Wir haben immer noch dieses liebe gute Bild: Das ist der arme Patient, der leidet, und dem wollen wir... Na gut, ist schon in Ordnung. Dagegen ist nichts zu sagen. Nur vergessen wir allzu leicht, daß Patienten genauso wie der Arzt von bestimmten, konkreten gesellschaftlichen Zwängen abhängen, daß sie selber ein Menschenbild haben. Es ist ja nicht so, daß der Patient kein Menschenbild hat. Er ist im Grunde genauso gebildet und ungebildet wie der Arzt auch. Er hat vielleicht nicht Medizin studiert, aber er hat viele Sachen auch erlebt. Jetzt ist doch das Problem, daß wenn ein Patient kommt, und sagen wir mal gegen bestimmte, z.B. psychosomatische Denkmodelle Aversionen hat, da muß auch der Arzt bereit sein, damit umgehen zu können. Es ist ja nicht so, daß jeder Patient sozusagen den Führenden in dieser Weise akzeptiert. Und in dieser Form muß eigentlich auf beiden Seiten, sowohl was die ärztliche Seite betrifft, die verschiedenen Generationen, die verschiedenen Fachgebiete auch, aber auch auf Seiten des Patienten sehr viel - ich möchte sagen: analytische Aufarbeitung geschehen. Was stellt sich ein Patient eigentlich vor? Warum kommt er zum Arzt? Oft ist es ja nun wirklich auch nur so, daß er eine simple Bescheinigung braucht und deshalb zum Arzt ,,latschen`` muß, obwohl das vielleicht in einer anderen Form viel wirtschaftlicher zu regeln wäre.

Dr. Eberl:
Ich wollte jetzt eigentlich noch etwas zu Herrn Demling sagen: Ich fühle mich als Chaosforscher mißbraucht, wenn man sagt, die Chaostheorie würde zeigen, daß man bei nichtlinearen Systemen sowieso nichts machen kann. So ist es eigentlich nicht. Ich meine, es stimmt natürlich, daß, wenn man ein chaotisches System hat und man macht da einen Eingriff und wartet dann ein Jahr lang, man natürlich nicht vorhersagen kann, was damit passiert. Das ist ähnlich wie mit dem Wetter. Aber man hat beim Patienten eigentlich doch die Möglichkeit, immer wieder kontinuierlich einzugreifen. Das muß man sehr gezielt machen, und dabei kann man auch sehr wohl etwas falsch machen. Zum sogenannten Schmetterlingseffekt möchte ich betonen, daß ein Schmetterling das Wetter nicht gezielt steuern kann, auch wenn er sich noch so viel Mühe gibt. Das liegt daran, daß es beim Wetter zu viele Freiheitsgrade oder zu viel Rauschen gibt, in dem sein Engagement untergeht. Es muß natürlich nicht alles so kompliziert sein wie das Wetter.

Prof. Demling:
Da muß ich aber direkt etwas dazu sagen: Ich habe nicht gemeint, daß man aufgrund des Chaos und der Nichtlinearität überhaupt nichts voraussagen kann. Im Gegenteil: Die Chaosforschung bemüht sich ja, dem Unvoraussehbaren, dem Unberechenbaren Terrain zu abgewinnen. Das ist ja die Aufgabe der Chaosforscher. Und das mit dem Schmetterlingseffekt, das war ja nur ein Beispiel, ein übertriebenes Beispiel gewesen, um zu zeigen, daß beim menschlichen Organismus und bei ärztlichen Handlungen winzige Veränderungen riesige Folgen haben können. Je tiefer sie in das Dickicht eindringt, desto mehr sieht man, daß auch das Chaos deterministischen Gesetzen gehorcht. Das ist meine Meinung von der Geschichte und nicht nur meine.

Prof. Volkmann:
Zur Frage der Verantwortung ist doch wohl klar, daß beides zusammengehört. Bei der Verantwortung für das Handeln ist die Verantwortung für die Folgen selbstverständlich mit einzubeschließen. Es wäre ja ein Luxus zu sagen, wenn ich bei der Handlung unmittelbar hohe ethische Werte intendiert habe, ist mir egal, was daraus wird, die Folgen gehen mich angeblich nichts an. Doppelt ist die Verantwortung. Kurzfristig lassen sich wohl die individuellen Folgen besser überblicken. Bei einem Patienten kann der Arzt wahrscheinlich besser voraussehen, welche Folgen das hat. Langfristige Folgen lassen sich dabei besser global übersehen und weniger die langfristig-individuellen Folgen. Also, es müßte doch mehr das Nachdenken darüber einsetzen, welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen für die Menschheit, für Mitteleuropa usw. voraussehbar sind. Und das bedarf einer intensiven Meinungsbildung. Das bedarf einer formulierten Abschätzung dieser Folgen, gegenseitiger Kommunikation. Darüber muß man intensiv nachdenken, und dann wird man nicht immer sagen können, die Folgen seien nicht absehbar, für den einen vielleicht nicht, aber für andere schon. Das gilt es dann sehr wohl beim Handeln miteinzubeziehen.

Prof. Demling:
Das ist statistisch, was sie sagen. Statistisch ist es voraussehbar, für das Individuum nicht unbedingt.

Prof. Volkmann:
Jawohl. Und das, was statistisch voraussehbar ist, muß gleichfalls mit eingehen in mein Handeln, denn auch dafür, auch für diese Art von Folgen, bin ich mitverantwortlich.

Prof. Pietschmann:
Sie haben jetzt zu früh nachgegeben nach meinem Geschmack. Ich glaube hier sind wirklich zwei Ebenen deutlich zu unterscheiden. Wenn ich Sie recht verstanden habe, meinen Sie ja, daß hier im Gespräch ein Konsens abzusehen ist. Das hat nichts mit Statistik zu tun. Einerseits gibt es statistische Folgen, aber es gibt eben auch im menschlichen Bereich die Entscheidungen, die mich persönlich betreffen. Das ist ja das große Paradox, wenn man Statistik über alles legt, daß es dann wieder stimmt. Aber diese Statistik betrifft nicht nur nicht das Individuum, sondern auch Gruppenentscheidungen nicht, sondern die werden auf völlig andere Art und Weise, nämlich durch den Konsens der Betroffenen hergestellt.

Prof. Demling:
Die Voraussehbarkeit von Handlungen für größere Gruppen - das habe ich gemeint.

Prof. Pietschmann:
Ja, ja, aber eben nicht statistisch ...

Prof. Volkmann:
... bevölkerungsstatistisch, z.B.: Das Aussterben einer Bevölkerung und die voraussehbaren sozialen Folgen der Endphase, die Übervölkerung eines anderen Erdteils und die voraussehbaren ...

Prof. Pietschmann:
Ja, aber um das geht es ja nicht bei der konkreten Handlung. Was mir hier entscheidend erscheint, daß in dem Bereich, wo es tatsächlich nicht möglich ist, auf irgendeiner exakten, sagen wir jetzt naturwissenschaftlichen Basis oder auch statistischen Basis, die Konsequenzen des Handelns abzuschätzen, z.B. bei der Frage, soll man das Medizinstudium ändern oder nicht. Das werden sie nicht statistisch lösen können..., sondern daß hier durch eine ethische Diskussion das Problem bewußt gemacht werden muß und daß dann sozusagen durch den Konsens der Betroffenen, durch die Zustimmung der Betroffenen ein Zustand hergestellt wird, in dem verantwortungsvolles Entscheiden wieder möglich ist. Diesen Unterschied halte ich schon für sehr wichtig.

Dr. Mann:
Also mir kommt das alles ein bißchen illusionär vor. Je mehr der Arzt mit sich selber nicht mehr zurechtkommt, weil er eigentlich nicht mehr genau weiß, wozu er da ist, desto mehr kümmert er sich um die ganze Gesellschaft. Es ist unsere Aufgabe, erst mal mit uns selber klarzukommen, erst mal wieder in unsere eigene Mitte zu kommen, unser inneres Selbst zu entdecken und aus dieser inneren Mitte unsere Handlungen zu vollziehen und uns nicht den Kopf nach außen zu zerbrechen, um uns von uns selbst abzulenken.

Prof. Sich:
Vielen Dank, Herr Mann. Ich kann Medizin, wie ich ausgangs schon sagte, nur als ein gesellschaftliches System verstehen, das ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis regelt, nämlich Umgang mit dem Störfaktor Krankheit. Und zwar sehe ich Medizin wie Sprache oder wie Wirtschaft und Religion als ein von der Kultur oder durch kulturelle Entwicklung entstandenes gesellschaftliches System in einer bestimmten Gemeinschaft (wir reden im Augenblick über unsere eigene), das eine Aufgabe hat. Und wenn wir dieses Problem so betrachten, dann sind Arzt und Patient zwei Elemente neben vielen, vielen anderen in diesem System, wie beispielsweise Wirtschaft bzw. pharmazeutische Industrie, Kassenwesen, Medien usw., die auf die Dinge Einfluß nehmen. Die Wissenschaftstheorie ist dabei nach meinem Dafürhalten relativ wenig einflußreich.

Dr. Kieper:
Eingangs hatten wir ja die Frage gestellt über den Sinn der Medizin und dann sind wir dazu gekommen, welche Verantwortung eigentlich der Arzt tragen soll. Das kann man so beantworten: Die Ausbildung des Arztes ist in den letzten Jahren doch wesentlich besser geworden. Das steht aber im krassen Widerspruch zu dem, was den Arzt eigentlich ausmacht ... Da ist das Stichwort Verantwortung. Ist er überhaupt in der Lage, mit seinem Patienten umzugehen? Denn wenn ich mir vorstelle, wie sie zur Zeit - und Professor Demling wird mir das verzeihen, wenn ich das ein bißchen provokativ sage - stromlinienförmig die Assistenten und natürlich auch die Studenten ausgebildet haben, wie duckmäuserisch sie sind, weil sie Angst haben, sich eventuell nicht habilitieren zu können, dann wird mir eigentlich ein wenig bang.

Prof. Demling:
Das war schon immer so.

Dr. Kieper:
Aber, Herr Professor, das wollten wir ja nicht sagen, eingangs, das war immer so. Das hatten wir Herrn Derbolowsky versprochen, daß wir nicht sagen wollten: das war immer so ...

Dr. Derbolowsky:
... und dabei dann stehenbleiben.

Dr. Kieper:
Und deswegen darf ich das mal ruhig so sagen. Ich will Sie ein wenig trösten, wenn man sich mit der Industrie unterhält, mit den Konzernen, haben Sie genau die gleiche Struktur. Da ist es - das hat mir jetzt ein Patient erzählt - eigentlich noch viel spannender z.B. in einer Werbeabteilung. Es waren eigentlich nur zwei Mann nötig. Eines Tages waren dort 60 Mann, die sich nur mit sich selbst beschäftigt hatten und keiner hat gemerkt, daß hier ein kleines Königreich entstanden war. Ähnliche Struktur haben sie an der Klinik natürlich auch. Worum es mir eigentlich geht, wenn wir wieder zu einem Arzttyp kommen wollen, der wirklich im guten Sinne Verantwortung tragen soll, dann müssen wir erstens unser Abitur wieder dahin führen, daß es auf extrem hohem Niveau steht. Und wenn wir kein Abitur haben, dann müssen wir die Aufnahmeprüfung für die Universität zumindest wieder dahin führen, wo sie hingehört. Fachlich vor allen Dingen, aber nicht nur fachbezogen. Ich meine auch in bezug auf Allgemeinbildung. Dazu gehört Philosophie usw. (Das brauche ich jetzt hier nicht erörtern.) Dann halte ich es auch für unbedingt wichtig, daß der Chef der Klinik seine Assistenten nicht nur Vorträge halten läßt über das spezielle Fach, sondern sich auch mal mit religiösen oder philosophischen Fragen auseinandersetzen oder mit dem, was Sie intensiv machen, mit Fragen der Chaostheorie. Das finde ich wunderbar. So sollte es sein. Und dann bin ich auch ganz sicher, daß wir dann einen Arzttypus bekommen, der den schwierigen Fragen dieser Zeit mit seinen Patienten gerecht wird.

Dr. Derbolowsky:
Lassen Sie mich mit einer Frage noch einmal auf Herrn Dr. Mann zurückkommen: Können wir uns in einer gewissen Weise einigen, wo wir anfangen wollen, nämlich z.B. der Frage: Was ändern wir jetzt beim Medizinstudium und an den Klinikstrukturen, also an den äußeren Umständen oder, wie von Herrn Dr. Mann angesprochen, liegt der Punkt zum Anfangen eigentlich bei den Änderungen der inneren Strukturen des einzelnen.

Prof. Staudinger:
Wir hatten ja in dem ersten Teil des Gesprächs weitgehend unterstrichen, daß der Patient eben nicht nur isoliert gesehen werden darf, sondern innerhalb seiner ganzen individiuellen Eigenart und innerhalb seines Sozialgefüges. Ich glaube, es ist gut, daß wir durch Herrn Schott und Herrn Kieper dahin kommen, daß nun auch der Arzt in einer ähnlichen Weise innerhalb seiner sozialen sonstigen Umgebung und innerhalb gewisser wirtschaftlicher Zwänge gesehen werden muß. Ich meine, wir wollen das doch realistisch sehen: Man kann natürlich einem Arzt nicht zumuten, daß er seine Patienten glänzend im humanen Sinne behandelt und daß er dabei mit seiner Familie wirtschaftlich zugrunde geht. Also, das sind doch ganz konkrete Dinge, die wir mit berücksichtigen müssen, und hier ist auch sicher vieles an unserem gegenwärtigen System reformbedürftig. Ich glaube, das kann man ohne Schwierigkeiten sagen. Die Frage ist natürlich, wo soll man anfangen? Aber da das ja ein Gesamtkomplex ist, kann man da an jeder Stelle anfangen und kann im Endeffekt wahrscheinlich recht Vieles ändern, aber das wird man natürlich nicht mit einem Sprung. Es hätte keinen Sinn, daß wir jetzt versuchen, ein ,,Gesamtkonzept zur Erneuerung der Medizin`` zu entwerfen. Das hätte sehr wenig Chancen, sondern da muß man wahrscheinlich mit relativ vielen kleinen Schritten anfangen.

Prof. Schroeder-Kurth:
Mich stört im Moment, daß wir nur über den Arzt reden. Mir kommt aus meinem Bereich in der Genetik immer wieder die Frage, was haben denn unsere Patienten für eine Ethik? Ist es nicht so, daß wir in unserer Bevölkerung, in einer Gesellschaft, in einer Kultur, dringend brauchen, daß wir wieder einen Geist haben zwischen Arzt und Patient, und daß wir dann uns fragen müssen, wo wir denn anfangen sollen, diesen Geist wieder zu begründen? - Wir haben vorhin schon gesagt: wo sollen wir denn anfangen? - Natürlich bei der Schule, in der Schulerziehung. Es geht nicht, daß nur die Mediziner Philosophie studieren, damit sie Lebenshelfer werden können, sondern auch die Patienten. Die brauchen einen Lebenssinn, um mit dem fertigzuwerden, was ihnen im Leben begegnet. Wenn wir Ärzte dazu helfen könnten und das in einem Sinne gemeinsam gestalten könnten, wäre das ein Zukunftstraum, den ich habe. In der Genetik gibt es so etwas wie ganz interessante Ansätze dazu: Es gibt Selbsthilfegruppen von bestimmten Patienten und Risikopersonen, die uns Ärzten heute sagen, wie wir mit ihnen umzugehen haben. Das ist z.B. eine internationale Richtlinie, die hervorragend ausgearbeitet ist, und wir tun gut daran, uns nach diesen Richtlinien zu richten. Jeder Patient, der zu uns kommt mit diesem spezifischen Problem, kennt die Richtlinie. Dann fühlen wir die Erleichterung, wenn wir auf einer Linie miteinander reden können. Ganz anders ist es beim Problem des Schwangerschaftsabbruches. Da begegnen uns Menschen, die eine völlig andere Auffassung von dem haben, was wir eigentlich tun sollten oder was wir könnten oder was ,,wegzuwerfen`` ist und was nicht ,,brauchbar`` ist. Und wenn wir dann sagen, ja dies und das ist eigentlich kein Grund zum Schwangerschaftsabbruch, dann kommen wir in große Konflikt. Einen weiteren Ansatz - ich will es nur erwähnen - macht ja die Akademie für Ethik in der Medizin, indem sie jetzt das Problem der Patientenethik ins Visier nimmt. Es gibt also ganz gute Ansätze.

Prof. Pietschmann:
Mir scheint es jetzt doch auch ziemlich klar herausgekommen zu sein, daß die Krise der Medizin nicht nur eine Krise der Medizin ist, sondern ein Spiegelbild einer viel größeren Krise, die unsere ganze Gesellschaft erfaßt. Da ist es natürlich so: Einerseits kann man die Krise in der Medizin nur dann beheben, wenn die Gesamtkrise behoben wird; andererseits aber, wenn wir darauf warten, passiert nichts. Das heißt, die Frage, wo soll man denn anfangen, würde ich in dem Fall immer beantworten mit: jeder bei sich selbst, d.h. die Medizin bei sich selbst und dann auch zunächst einmal bei den Ärzten. Mir scheint jetzt das Thema, das wir ganz am Anfang gehabt haben, auch wieder indirekt heraufzukommen, nämlich die Frage: Was ist denn die Medizin? Ist sie eine Wissenschaft? - Nun, in der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte wurde einmal ein Vortrag gehalten zum Thema ,,Medizin - eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst``. Mir scheint - und das ist meine persönliche Interpretation, die natürlich falsch sein kann - zumindest eine Ursache der großen Krise unserer Gesellschaft darin zu liegen, daß wir eben solche Aporien (wie Sie es auch zuerst angesprochen haben) nicht mehr in den Griff bekommen, daß wir alle öffentlichen Disziplinen z.B. nach dem Denkschema der Naturwissenschaft ausrichten. Wenn die Medizin eine Naturwissenschaft ist, dann ist die gegenwärtige Vorgangsweise tatsächlich die richtige, daß die Studenten und Studentinnen kommen und etwas lernen und man sich nicht darum kümmert, was ihre Persönlichkeitsstruktur ist. In der Kunst ist das völlig unmöglich. Wenn jemand in Wien an die Musikakademie geht, dann wird er zuerst einmal zum Klavier geführt und man schaut einmal nach, ob er überhaupt musikalisch ist. Im Flugwesen z.B., wo das Fliegen eines Verkehrsflugzeuges sehr viel Wissen und Kenntnisse erfordert, würde niemand auf die Idee kommen, sich darauf zu beschränken, sondern zukünftige Flugkapitäne werden natürlich genau nach ihrer Persönlichkeitsstruktur ausgesucht, ob sie Streß aushalten können, ob sie ruhig bleiben u.ä. - Meine Frage ist (im Bildungswesen bin ich überzeugt, daß man das tun sollte, daß nicht jeder Lehrerin oder Lehrer werden kann): Sollte man nicht auch in der Medizin ein bißchen schauen nach der Persönlichkeitsstruktur, eben in bezug auf Kommunikationsfähigkeit und derlei Dinge? Dann hätte man auch diese Aporie zwischen Naturwissenschaft und Kunst in der Praxis etwas aufgeweicht.

Prof. Demling:
Darf ich dazu was sagen ... Die Vorbilder hat man vernichtet. Das ist schon mal eine Sache. Die großen Ordinarien hat man abgeschafft, die seien übermächtig. Die hatten aber diesen Teil dazugeliefert zur Wissenschaft, wie man es machen soll, z.B. am Krankenbett und im konkreten Fall. Man muß die Ärzte und die Patienten auf gleiche Wellenlänge bringen, das ist ganz wichtig. Es ist ganz wichtig, daß man auf den einzelnen Patienten zugeht und daß man sich von der Studiengläubigkeit löst. Die Studien sind wichtig, für Pharmaka usw., aber auf der anderen Seite soll man nicht sagen, nur, das was dort nicht durchfällt, ist gut. Wir sprechen jetzt immer ein bißchen von verschiedenen Dingen, das ist ganz klar. Jeder macht sich seine eigene Wirklichkeit. Die Wirklichkeit besteht überhaupt nur über den Beobachter. Es ist sicher auch eine Aufgabe dieser Diskussion hier, daß man sagt, nicht alles nur vom Gesellschaftlichen, vom Überschlägigen, vom Statistischen, sondern vom Individuellen her zu sehen.

Prof. Schott:
Ich sage jetzt mal was ganz Ketzerisches, aber durchaus im Sinne von Herrn Demling. Ich war in der 68er-Studentenbewegung - zwar nicht an vorderster Front, aber innerlich sehr beteiligt, manchmal auch äußerlich ... ,,Unter den Talaren Muff von tausend Jahren``, dann kam das Multiple-Choice-System. Die Studenten haben nicht gemerkt, daß uns das kaputt machen würde. Rückblickend gesehen bin ich jetzt in der Situation des Dozenten und kann nur sagen: Inhaltlich war die alte Ordinarienuniversität qualitativ besser als das, was uns heute entgegentritt. Vielleicht liegt es aber an der gesamtgesellschaftlichen Situation, die ein Studium damals eher ermöglicht hat. Die Medizin, so wie sie in der Ausbildung gestaltet wird, ist weder Wissenschaft noch Kunst. Ich weiß gar nicht, wie man das bezeichnen soll. Ich sehe kaum, wo Studenten wirklich wissenschaftlich ernsthaft an einem Problem orientiert ausgebildet würden, schon gar nicht naturwissenschaftlich. Ich muß Sie enttäuschen, wir haben kein naturwissenschaftliches Training, sondern wir haben ein Sammelsurium von Scheinen und Da-und-dort-Ankreuzen. - Und Kunst ist es schon gar nicht! Es ist leider weder das eine noch das andere, worin die jungen Ärzte ausgebildet werden. Es ist eine Fertigkeit, die Qualifikation, die Scheine richtig dem Prüfungsamt vorzulegen, das dann in Stuttgart, in Saarbrücken oder wo auch immer sitzt.

Dr. Derbolowsky:
Erschütternd, nicht?

Dr. Zycha:
Darf ich jetzt dazu vielleicht etwas sagen, weil jetzt das Stichwort ,,Kunst`` so oft schon aufgetreten ist, daß es in England tatsächlich so ist, daß das Heilwesen, die Medizin, unter Kunst läuft und sie deswegen die Wissenschaftlichkeitsklausel nicht haben. Die Engländer haben also viel freiere Naturheilverfahren als bei uns, und das kommt genau daher, daß das dort unter ,,Kunst`` läuft. Also, warum soll das nicht bei uns auch irgendwie möglich sein, daß man das etwas ,,ent-wissenschaftlicht``.

Dr. Derbolowsky:
In England gibt es, glaube ich, den Arzt, der ,,Mister`` genannt wird und den Arzt, der ,,Doctor`` genannt wird.

Dr. Zycha:
... Ja, vielleicht ist da noch ein Unterschied ...

Dr. Eberl:
Ich wollte nochmal auf das zurückkommen, was Frau Prof. Sich gesagt hat. Man kann die Medizin vielleicht wirklich sehen als eigenes Funktionssystem in der Gesellschaft zur Hilfe der Menschheit und nicht so sehr als Wissenschaft oder als Kunst und sich dann vielleicht neu überlegen, wie man da Ausbildung machen kann. Das heißt gar nicht mal so sehr, daß man jetzt unbedingt Wissenschaft und Kunst zusammenbringen muß, sondern sich ganz neu auf die Zielsetzung, dem Menschen zu helfen, konzentrieren sollte. Vielleicht kommt man so auf neue Ideen.

Dr. Derbolowsky:
Das ist eine sehr gute Anregung, die in der folgenden Pause angedacht werden kann. In 20 Minuten machen wir weiter.



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Wed Sep 21 08:46:15 CDT 1994