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Arbeitspapier für die Gesprächsrunde von Prof. Dr. Hugo Staudinger

Bei den meisten Fragen, die im Bereich der medizinischen Forschung und Behandlung umstritten sind, handelt es sich um Prioritätsfragen. Sie ergeben sich weithin daraus, daß der Mensch, mit dem der Arzt zu tun hat, drei verschiedene Wirklichkeitsbereiche in sich vereinigt: den materiellen, den biotischen und den personalen. Das Verhältnis dieser drei Bereiche zueinander ist wechselseitig und in vieler Hinsicht kompliziert. Der Theologe Karl Rahner hat es einmal in einem ebenso komplizierten Satz zu fassen gesucht: ,,Die höhere Dimension impliziert in ihrer eigenen Wirklichkeit als ihr eigenes Moment, die niedrige Dimension, hebt sie - aber im Hegelschen Sinne - in sich auf, wahrend und überbietend, ohne darum die Gesetze der unteren Dimension zu verletzen, so wenig das Höhere als der kompliziertere Fall des Niedrigen verstanden und von daher erklärt werden kann.`` (1)

Es ist aufschlußreich, das Verhältnis dieser drei Bereiche zueinander zunächst ganz allgemein zu kennzeichnen. Dabei zeigt sich, daß die Zuordnung der Bereiche zueinander in einer doppelten Weise erfolgt, die in vieler Hinsicht als gegenläufig bezeichnet werden kann: Einerseits bilden die niedrigen Bereiche jeweils die Basis der höheren. Die Welt des Lebendigen setzt die unbelebte Materie voraus, und die Welt des Lebendigen wiederum bildet die Basis für die Entfaltung des Personalen.

Diese Art der Zuordnung der Bereiche zueinander ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn andererseits nehmen die jeweils höheren Bereiche die niederen in ihren Dienst und gestalten sie radikal um nach Prinzipien, die aus den niederen nicht ableitbar sind. So wird im Bereich der Organismen die Materie samt ihren Eigenarten in eine höhere Daseinsweise aufgenommen, die ihr selbst eine neue Qualität verleiht (2). Diese neue Qualität dokumentiert sich nicht zuletzt darin, daß die Richtungstendenz der chemischen Prozesse im Bereich der unbelebten Materie jeweils auf einen Ausgleich von Spannungen abzielt, also vom Unwahrscheinlicheren zum Wahrscheinlicheren, während die Richtungstendenz im organischen Bereich vom Wahrscheinlichen zum Unwahrscheinlichen hingerichtet ist.

In der Alltagserfahrung tritt dieser Unterschied am deutlichsten zutage, wenn eine Pflanze eingeht oder ein Tier stirbt. Vor dem Tode dienen die zurecht als biochemisch bezeichneten Prozesse dem Aufbau und der Erhaltung eines unter rein chemischen Gesichtspunkten völlig unwahrscheinlichen Zustandes, den man auch als Fließgleichgewicht bezeichnet. Mit dem Tod jedoch münden die chemischen Prozesse wieder in die Richtung ein, die den anorganischen Bereich kennzeichnet: Zerfall bzw. Ausgleich von Spannungen und Gegensätzen, d. h. in eine Richtung, die man mit dem Begriff der Entropie beschreiben kann.

Eine analoge qualitative Differenz besteht zwischen dem biotischen und dem personalen Bereich. Die biologischen Vorgänge insbesondere die Befriedigung biologischer Bedürfnisse erfolgt im personalen Bereich in einer qualitativ anderen Art und Weise als in der Tier- und Pflanzenwelt. Voraussetzung dafür ist ein völlig neues Weltverhältnis: Während Pflanzen und Tiere jeweils in eine bestimmte Umwelt eingebunden sind, die sie nur in einem jeweils artgebundenen Spielraum zu gestalten bzw. mitzugestalten vermögen, tritt der Mensch der Welt frei gegenüber.

Diese Zuordnung der Wirklichkeitsbereiche spiegelt sich auch im Schöpfungsbericht der Genesis wieder. In der ersten Schöpfungsphase schuf Gott Himmel und Erde. In der zweiten rief er Erde und Wasser dazu auf, Pflanzen und Tiere hervorzubringen, und in der dritten rief er in einer personalen Zuwendung den Menschen ins Dasein und gab ihm zugleich einen Herrschaftsauftrag, der seine Umweltgebundenheit sprengte und ihm ein völlig neues Weltverhältnis gab. Es dokumentiert sich am eindruckvollsten in der Sprache.

Unsere Sprache unterscheidet sich qualitativ von sogenannten tierischen Sprachen, die uns durch die moderne Verhaltensforschung weithin zugänglich sind. Bei den Tieren dienen die ,,Sprachen`` einer für die jeweilige Tierart biologisch förderlichen funktionalen Kommunikation. Dementsprechend beschränkt sich ihr ,,Wortschatz`` auf das für die jeweilige Tierart Lebenswichtige. Daher werden Erscheinungen der Wirklichkeit in den Tiersprachen nicht mit ,,objektiven Begriffen`` benannt, sondern auf die Lebensbedeutung für die betreffenden Tiere bezogen. So spielt z. B. der der menschlichen Sprache zugeordnete Begriff ,,Baum`` für das Tier keine Rolle. Was wir als Baum bezeichnen, erscheint vielmehr in deren Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Mitteilungssystemen als jeweils ,,Futterstatt,,, als ,,Brutstelle,,, als ,,Zufluchtsort`` oder auch als ,,Orientierungspunkt,,. Dagegen dokumentiert der Mensch in der Sprache sein Vermögen, bei der Wahrnehmung und Erkenntnis von sich selbst und seinen unmittelbaren Bedürfnissen abzusehen, das heißt der Welt frei gegenüber zu treten.

Dank dieser Freiheit, kann der Mensch nunmehr seine Welt samt der biologischen Notwendigkeiten und Bedürfnissen in den Dienst personaler Entfaltung stellen. So schafft und gestaltet er nicht nur Dinge, die aus rein biologischen Impulsen schlechthin nicht erklärt werden können. Hierunter fällt vor allem alles, was mit den Stichworten ,,Kunst,,, ,,Schönheit`` oder auch ,,Symbol`` gefaßt werden kann. Hierzu gehört vielmehr auch eine qualitativ neue Ausgestaltung bzw. eine radikale Umgestaltung der Befriedigung biologischer Bedürfnisse. Das beginnt schon beim Essen und Trinken. Die Art und Weise, wie der Mensch seit den frühesten uns durch die Forschung zugänglichen Zeiten die Nahrung zubereitet und zu sich nimmt, ist allein von der biologischen Ebene her schlechthin nicht zu erklären. Es beginnt schon mit der Zurichtung und Einnahme der Speisen und es endet mit den jeweils kulturspezifischen Tischsitten und Gebräuchen.

Dabei spielt das gemeinsame Mahl, das der Aktivierung interpersonaler Beziehungen dient und zudem eine kultische Komponente - den Dank an die nahrungsspendenden Gottheiten - enthält, jeweils eine besondere Rolle. Auch die Ausgestaltung der sexuellen Komponente erfolgt bei den verschiedensten Völkerschaften nach Prinzipien personaler Ordnung. Bezeichnenderweise werden Ausdrücke wie ,,Fressen`` und ,,Saufen`` jeweils dann ins Spiel gebracht, wenn Menschen die Nahrung ohne jede Berücksichtigung der personalen Komponente zu sich nehmen. Und eine Betätigung bzw. Freisetzung der Sexualität, die nicht als Ausdruck personaler Liebe erfolgt, sondern nur dem Abreagieren biologischer Spannungen dient, wird als barbarisch bzw. viehisch empfunden.

Daß die personale Komponente bei einer humanen Gestaltung der menschlichen Lebenswelt tatsächlich übergeordnet ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß der Mensch biologischen Bedürfnissen entgegenhandeln kann. Er vermag trotz Hungers und Durstes zu fasten und um personaler Liebe und Treue willen auf sexuelle Vereinigungen auch dann zu verzichten, wenn rein biologisch alles dazu hindrängt. Mit diesen Feststellungen wird selbstverständlich nicht bestritten, daß es schwierige Situationen gibt, in denen erhebliche Spannungen zwischen biologischen Impulsen und Bedürfnissen und personal geforderten Verhaltensweisen entstehen.

Da der Arzt es jeweils mit dem ganzen Menschen zu tun hat, spielt die Zuordnung der drei Wirklichkeitsbereiche zueinander auch bei der Frage nach der Behandlung von Kranken und Verwundeten eine erhebliche Rolle. Selbstverständlich gibt es Fälle, die keine großen Probleme bedeuten. Hierzu gehört z. B. die Verabreichung von biochemisch notwendigen Stoffen, um Mängel oder besondere Defizite auszugleichen, angefangen von Magnesiumpräparaten über Insulinspritzen bis hin zur Bluttransfusion. Aber selbst dabei kann es schon Komplikationen geben, die nur von der personalen Ebene her verstanden werden können. Hier kann sowohl an Patienten gedacht werden, die allenfalls Human-Insulin, jedoch kein Schweine-Insulin ohne Widerstreben annehmen, wie auch an jenen weißen Südafrikaner, der lieber starb, als einer Blutübertragung von einem Schwarzen zuzustimmen. Man denke aber auch an die leicht nachvollziehbaren Ängste vor einer Übertragung von Aids durch Bluttransfusionen und die daraus resultierenden Wünsche, vor einer Operation vorsorglich eigenes Blut bereitzuhalten.

Natürlich kann man der Auffassung sein, bei derartigen Widerständen von der personalen Ebene her handele es sich um rein subjektive und unsinnige Vorurteile. Konsequenterweise müßte man jedoch dann das gleiche Argument auf Abstoßungsvorgänge anwenden, die von der biotischen Ebene her kommen. Auch hier gibt es ja Schwierigkeiten bei Transplantationen, die wir einerseits durch eine Vorauswahl von ,,geeigneten`` Spendern, und andererseits durch eine vorsorgliche Lähmung der Abwehrreaktionen zu bekämpfen suchen. Als eindrucksvolles Beispiel für die Schwierigkeiten, die es in vielen Fällen zu überwinden gibt, sei nur darauf hingewiesen, mit welchem Aufwand in vielen Fällen ein geeigneter Knochenmarkspender gesucht wird, und wie oft diese Mühe im Endeffekt vergeblich bleibt.

Diese Beispiele treffen aber noch nicht den Kern dessen, was ich für unsere hier anstehenden Überlegungen für bedenkenswert halte. Es geht mir primär darum, daß bei allen Entscheidungen über den Kranken die Überordnung des Personalen über das Biotische und das Materielle gewahrt bleibt. Dies gilt grundsätzlich für die gesamte Behandlung und hat konkrete Konsequenzen für eine Vielzahl von Entscheidungen. Zur Verdeutlichung möchte ich beispielhaft nur einige Problemkreise bzw. Prioritätsfragen herausgreifen:

1. Der Arzt hat es mit der menschlichen Person zu tun, in der die psychische und die somatische Komponente eine Einheit bilden. Daher darf sich die Diagnose und Therapie nicht einseitig auf körperliche Defizite konzentrieren. Die ärztliche Sorge hat der menschlichen Person zu gelten und nicht allein deren biotischer und materieller Basis. Das gilt insbesondere für Christen, die davon überzeugt sind, daß die menschliche Person den Tod überdauert. Der Arzt ist einerseits Anwalt und Helfer des Lebens, indem er Kranken und Verletzten zur Wiederherstellung oder zumindest zur Stabilisierung eines relativ guten Gesundheitszustandes zu helfen sucht. Dieser Auftrag macht ihn jedoch nicht zu einem unversöhnlichen Kämpfer gegen den Tod. Vielmehr gehört auch die Vorbereitung auf den unvermeidlichen Tod zu seinen legitimen Aufgaben, indem er den Tod als Teil des Lebens annimmt und so gut er es vermag, bei seinen Patienten die Furcht vor dem Tod zu überwinden und ihnen gegebenenfalls durch schmerzlindernde Mittel vermeidbare Qualen zu ersparen sucht. Dabei darf er sich nicht als Herr über Leben und Tod aufspielen, indem er entweder das Leben eines Patienten vorzeitig beendet oder das Sterben durch Intensivmaßnahmen ständig verlängert.

2. Da der Patient Person ist, darf er nicht behandelt werden wie ein Auto, das zum TÜV gebracht wird. Es ist vielmehr notwendig, daß der Arzt zu ihm als Person ein vertrauensvolles Verhältnis findet, und in vielen Fällen darüber hinaus, daß er auch das personale Umfeld des Patienten in seine diagnostischen und therapeutischen Überlegungen einbezieht. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung über eine stationäre oder ambulante Behandlung und für die Gestaltung der Besuchsmöglichkeiten in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Dabei bilden die Intensivstation der Krankenhäuser und die sogenannten ,,Sterbekliniken`` je besondere Probleme. Die Priorität des Personalen bedeutet vor allem, daß eine Einweisung in stationäre Behandlung nur dann erfolgt, wenn eine angemessene Pflege in der gewohnten Umgebung unmöglich ist, und daß eine Einweisung in eine Intensivstation nur dann erfolgt, wenn eine reale Chance besteht, daß der Patient sie nach einiger Zeit in einem zumindest relativ besseren Zustand wieder verlassen kann. In jedem Falle sollte der Arzt alle Möglichkeiten nutzen, um die personalen Beziehungen zwischen seinem Patienten und dessen Angehörigen zu aktivieren. Vereinsamte Patienten sollten von freiwilligen ehrenamtlichen Betreuern personalen Beistand erfahren. Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, daß weder die hauptberuflichen Schwestern und Pfleger noch ehrenamtliche Helfer überfordert werden.

3. Die Priorität des Personalen erfordert es, daß Räume, in denen Kranke oder Verletzte untergebracht werden, nicht allein unter funktionalen Gesichtspunkten gestaltet werden. Das hat erhebliche Konsequenzen für die Ausgestaltung der Krankenhäuser. Erfreulicherweise ist in den letzten Jahren die Möglichkeit des Telefonierens vom Krankenbett her erheblich verbessert worden. Zu einer humanen Gestaltung gehört jedoch auch ein freundliche Ausgestaltung der Räume einschließlich Bildern, Tischdecken und dergleichen. Darüber hinaus ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob Wünsche des Patienten wie z. B. ein besonders liebes Bild aus seiner eigenen Wohnung aufzuhängen, berücksichtigt werden können.

4. Schließlich sollte nicht nur in ausgeprägt christlichen Krankenhäusern auch mitbedacht werden, daß der Patient in einer personalen Beziehung zu Gott steht und daß die Intaktheit dieser Beziehung für sein personales Wohlbefinden gerade auch in den Zeiten einer Beeinträchtigung durch körperliche Defizite eine kaum überschätzbare Bedeutung hat. Selbstverständlich sollte Krankheit nicht instrumentell eingesetzt werden, um Menschen zu einer religiösen Besinnung zu bringen. Das schließt jedoch nicht aus, daß eine Atmosphäre geschaffen wird, in der der Kranke von sich aus eine solche Besinnung finden kann und, sofern er es wünscht, Hilfe dazu erhält. Wie Erfahrungen belegen, gilt das z. B. in jüngster Zeit für einen verhältnismäßig großen Teil der an Aids Erkrankten. Hierin zeigt sich jedoch nur repräsentativ ein Zustand, in dem sich viele, vielleicht sogar die meisten Kranken befinden. Eine unaufdringliche seelsorgliche Betreuung sollte daher überall angeboten werden, wobei nach Möglichkeit auch Kontakte zwischen den Angehörigen des Patienten und dem Seelsorger gefördert werden sollten.

5. Wie diese gesamten Überlegungen zeigen, ist bei einer konsequenten Überordnung der personalen Gesichtspunkte über die biotischen die Frage nach der Verlängerung oder Verkürzung des Lebens des Patienten nicht die entscheidende Frage. Es kann durchaus angemessen sein, ein kürzeres Leben in Kauf zu nehmen, wenn dadurch die personale Würde des Menschen besser geachtet wird. Ein besonders schwieriges Problem ist durch die heutigen Möglichkeiten von Organtransplantationen entstanden. Dieses Problem besteht nicht, sofern es sich um Doppelorgane oder Organteile handelt, die einem Lebenden mit dessen Einwilligung entnommen werden. Das gilt von Blut- und Knochenmarkspenden bis hin zur Transplantation von Leberteilen und Nieren. Problematisch ist jedoch eine Organübertragung von Unfallopfern, Embryonen und anderen für tot Erklärten. Schon daß der Gehirntod als Todeskriterium weithin unter dem Gesichtspunkt der Organtransplantation für verbindlich erklärt worden ist, signalisiert die Problematik. Dazu kommt, daß nach allen bisherigen Erfahrungen durchaus verständlicherweise die Hauptsorge der Mediziner bei derartigen Transplantationen dem Patienten gilt, dem das betreffende Organ zugeführt wird, während der ,,Organspender`` mehr oder weniger abgeschrieben ist und, da er sich zumindest in den allermeisten Fällen in einem bewußtlosen oder zumindest bewußtseinsgeminderten Zustand befindet, keines personalen Beistandes gewürdigt wird. Wahrscheinlich gibt es keine Pauschallösung für die damit angedeuteten Probleme. Es muß jedoch darüber nachgedacht werden, ob hier nicht auf den Menschen ein ,,Reparaturdenken,, angewandt wird, das seiner personalen Würde widerspricht.

Anmerkungen

(1) Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, S. 255

(2) Bezeichnenderweise hat man lange Zeit zwischen organischer und anorganischer Chemie unterschieden und war nicht in der Lage, ,,organische Stoffe`` synthetisch herzustellen.



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Wed Sep 21 08:46:15 CDT 1994