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Arbeitspapier für die Gesprächsrunde von Dr. rer. nat. Werner Eberl

Perspektiven der Chaosforschung in der Medizin

Ziele der Chaosforschung

Die Chaosforschung beschäftigt sich mit Systemen, die komplexe zeitliche oder räumliche Strukturen aufweisen. Hinter dieser Komplexität stecken oft einfache, deterministische Regeln, die die Chaosforschung zu ermitteln sucht. Ziele dieser Modellbildungen sind vor allem Kurzzeitvorhersagen und die Berechnung von Eingriffsmöglichkeiten, um mit minimalem Energieaufwand maximale Wirkungen zu erzielen.

Die Chaosforschung gliedert sich demnach in folgende Bereiche:

Studium nichtlinearer Modelle

Um geeignete Beschreibungen für die Dynamik realer Systeme finden zu können, werden neue Arten mathematischer Modelle entwickelt und untersucht. Beispiele sind dazu: nichtlineare diskrete Abbildungen, locally coupled maps, zelluläre Automaten, neuronale Netze, Fuzzy Systems, symbolische Dynamik.

Ermittlung passender Modelle für real existierende Probleme

Hat man eine genügend große Palette an Modellen studiert, gilt es, das für eine gegebene Problemstellung optimale zu finden. Dabei hängt es nicht nur vom System und den daran interessierenden dynamischen Größen, sondern vor allem von dem Ziel der Modellbildung ab, welches der mathematischen Modelle man benutzt. Hier ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit entscheidend: Diejenigen, die mit der Struktur der Modelle vertraut sind, müssen mit denjenigen, die die Struktur der Probleme kennen, zusammenarbeiten.

In vielen Fällen stellt sich das Finden optimaler Modelle als nichtlinearers Optimierungsproblem. Auch dafür entwickelt die Chaosforschung neue Methoden, z.B. die genetischen Algorithmen.

Aufspüren allgemeiner Prinzipien nichtlinearer Dynamik

Bestimmte Strukturen in der Dynamik nichtlinearer dynamische Systeme kehren immer wieder und sind insbesondere auch dann noch erkennbar, wenn es nicht gelingt, ein konkretes Modell anzugeben.

Ein Beispiel ist das Prinzip des dynamischen Schlüssels: Ein System reagiert besonders empfindlich auf Anregungen, die in allen Zeitskalen mit der Eigendynamik des Systems übereinstimmen. Damit entsteht die Möglichkeit einer besonders sensitiven nichtlinearen Resonanzspektroskopie. Die Anregungskraft wird solange variiert, bis die Antwort des Systems maximal wird. Dies ist insbesondere nützlich, um einzelne Parameter der Systemdynamik genau zu vermessen [1,2].

Ein anderes Beispiel ist der Übergang von periodischem zu chaotischem Verhalten über fortgesetzte Periodenverdopplungen. Hier lassen sich sogar Zahlenwerte für die Abstände der Verdopplungen angeben, die nicht von der speziellen Form der Abbildungen abhängen.

Spezifizieren sinnvoller Fragestellungen bei komplexen Systemen

Chaotische Systeme zeigen sensitive Abhängigkeit der Langzeitentwicklung von minimalen Änderungen in den Anfangsbedingungen. Beispiel: Obwohl die mechanischen Gesetze die Dynamik der Bahn eines Würfels exakt beschreiben, verstärken sich bei jedem Stoß mit der Tischplatte die Ungenauigkeiten in den Orts- und Geschwindigkeitskoordinaten so stark, daß das Ergebnis des Wurfs letztlich von den Dezimalstellen weit hinter dem Komma abhängt, die zu Beginn des Wurfes gar nicht bestimmbar waren. Das Ergebnis erscheint damit zufällig.

Die Chaosforschung entwickelt Maßzahlen für das globale Verhalten des Systems, die unabhängig von den genauen Anfangsbedingungen sind. Ein Beispiel dafür sind Maße, die angeben, wie lange eine Vorhersage überhaupt sinnvoll sein kann.

Ebenso beschäftigt sich die Chaosforschung damit, wann welche Maßzahlen oder Modellparameter überhaupt sinnvoll zu bestimmen sind.

Mögliche Anwendungen in der Medizin

Die Chaosforschung bietet eine reiche Palette von mathematischen und experimentellen Methoden, wobei noch nicht abschätzbar ist, welche in der Medizin den deutlichsten Fortschritt bringen kann. Es gibt aber ein paar Ideen:

Verständnis aperiodischer Vorgänge

Das Denken über dynamische Vorgänge in der Medizin ist - wie in den meisten anderen Wissenschaften - geprägt vom Denken in Rhythmen, also festen Perioden. Aperiodische Vorgänge werden, wenn überhaupt, als periodische Vorgänge mit Störungen verstanden. Daß aber auch aperiodischem Verhalten einfache deterministische Regeln zugrunde liegen können, deren Kenntnis ausgenutzt werden kann, ist die Aussage der Chaosforschung.

Resonante Steuerung

Mithilfe nichtlinearer Steuertheorie könnte es möglich sein, den Zeitpunkt der Gabe von Medikamenten und die jeweilige Dosis zu optimieren.

Verständnis der Dynamik des Herzens

Die Herzdynamik ist eines der Themen, die bereits intensiv von Chaosforschern behandelt wird [3]. Dabei werden zum einen neue Darstellungsmethoden für Herzrhythmusschwankungen angewendet, zum anderen aber auch zelluläre Automaten [4] zur Simulation der Reizausbreitung beim gesunden und kranken Herzen eingesetzt.

Bewegungsforschung

Der Ablauf einfacher Bewegungen (z.B. die Auf- und Abbewegung eines Fingers) wird nicht im Detail vom zentralen Nervensystem gesteuert. Vielmehr stellt sich die Bewegung als autonomes System dar, das im allgemeinen nur an einzelnen Punkten vom ZNS getriggert wird. Der Ablauf zwischen den Punkten läßt sich mit einer niederdimensionalen Differentialgleichung modellieren [5].

Schallemissionen des Ohres

Bei Anregung des Ohres mit sinusförmigen Tönen in der Nähe der Frequenz der spontanen Emissionen des Ohres enstehen chaotische Schallemissionen [6]. Die Analyse dieser Signale könnte zusammen mit einer geeigneten Resonanzspektroskopie umfassende Daten zu Geometrie und Elastizitätseigenschaften der Cochlea und des Mittel- und Innenohrs liefern.

Literatur

[1] A. Hübler. Modeling and Prediction of Complex Systems, Paradigms and Applications, in: Modeling Complex Phenomena, edited by L.Lam, Springer, New York, 1992

[2] W. Eberl. Modellierung und Steuerung nichtlinearer Oszillatoren mit diskreten Abbildungen. Kunst und Alltag, München, 1992.

[3] G. Morfill, H. Scheingraber. Preprint 1993, MPI für extraterrestrische Physik, Garching bei München.

[4] T. Aschenbrenner. ,,Simulation und Analyse von Elektrokardiogrammen mit Methoden der Nichtlinearen Dynamik``, Diplomarbeit am Physik-Department der TU München, 1991.

[5] T. Eisenhammer, A. Hübler, N. Packard, J.A.S. Kelso, ,,Modeling Experimental Time Series With Ordinary Differential Equations``, Technical Report 7 (1989), Center for Complex Systems Research, 405 North Mathews Av., Urbana, IL 61801, USA

[6] F. Böhnke, ,,Chaotische Dynamik von otoakustischen Emissionen (Schallaussendungen des Ohres)``, Skriptensammlung zum Chaos-Seminar im WS 1990/91 an der TU München. Chaosgruppe, München, 1991.



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werner@ccsr.uiuc.edu
Wed Sep 21 08:46:15 CDT 1994